„Im Zusammenwirken mit dem Computer hat der Mensch sehr viel zu sagen.“ Ein Interview mit Jasmin Meerhoff über ihre digitale Literatur in „Knoten und Bäuche“ (2022)

In ihrem jüngst erschienen Werk „Knoten und Bäuche“ zerschneidet Jasmin Meerhoff mithilfe eines Computers Buchtexte und fügt sie neu zusammen: Cuts sorgen für neue Codes, Drucke entwickeln Drive – und die Lektüre führt zu neuen Entdeckungen. Zu ihrer ganz eigenen Form der Verfremdung von Texten bzw. der experimentellen Literatur hat mir die Autorin aus Freiburg einige Fragen beantwortet.

Andreas Urban: „Knoten und Bäuche“ verarbeitet eine bestimmte Zahl von Quellentexten. Warum fiel die Wahl dabei ausgerechnet auf Heinrich Hertz? Bei ihm handelt es sich ja um einen Physiker. Wie passen Ihrer Meinung nach Literatur und Experiment bzw. Messbarkeit zusammen? Hinzu kommen Marx und Freud als Bezugsgrößen. Beide waren eine wichtige Anlaufstelle der Neuen Linken. Wie ist ihre Position hierzu?

Jasmin Meerhoff: In den Originalschriften von Heinrich Hertz finden sich Formulierungen, die sprachlich reizvoll sind. Gleichzeitig lässt sich darüber was übers wissenschaftliche Experiment allgemein lernen. Literatur und Experiment passen gut zusammen. Ein Setting schaffen, mit bestimmten Vorannahmen, Instrumenten und Methoden, die im Prozess justiert werden müssen.

Freud, Marx, Hertz – das sind bekannte Namen von Männern, deren Arbeiten als wesentlich für bestimmte Gebiete der Wissenschaft gelten. Und in diesen Gebieten, in ihrem Zusammentreffen, findet heute so viel statt: Psyche, Kapitalismus und Elektromagnetismus. Das gab den Anlass, ihre Texte zusammenzuschneiden. Von den dreien habe ich Marx persönlich am meisten gelesen, und tue das immer noch. Vielleicht beantwortet das die Frage nach meiner Position.

Andreas Urban: Kommen wir zu den Stichwörtern Bild und Bewegung. Inwiefern spielt das Visuelle, das Schöne eines entstehenden Schriftbildes, eine Rolle für Sie? Ihre Texte wurden ja auch in einer Galerie gezeigt. Zugleich eignen sich Ihre Textbilder für aufregende Lesungen, die an Dada-Aufführungen oder die auditive Poesie von Ernst Jandl erinnern.

Jasmin Meerhoff: Ehrlich gesagt bin ich so froh, dass Texte entstanden sind, die verschiedene Wahrnehmungen, Lesarten und Aufführungen provozieren. Die semantische Ebene tritt zugunsten des visuellen Charakters von (lateinischer) Schrift etwas zurück, das sieht schön aus, aber wer sich ans Lesen macht, kann auch unschöne Aussagen finden und beim Vorlesen sich im Sprechen an der Materialität der Sprache erfreuen.

Andreas Urban: In ihren Texten herrscht viel Dynamik. Die Seiten strömen auf eine Mitte zu – sowohl die Collagen in den Kapiteln Außenkanten als auch das Buch insgesamt mit seinem Kern Schnittbereitung. Was bedeutet Bewegung für Sie? Und was gerät da für Sie bei Quellentexten, wenn Sie diese computergestützt bearbeiten, in Bewegung? Die Avantgarde war ja schon immer ‚bewegt‘. Inwiefern sehen Sie das auch als wichtigen Charakter computergestützter Literatur? Oder besteht gerade bei ihr die Möglichkeit, diesen Topos weiterzuentwickeln?

Jasmin Meerhoff: Einerseits ist da dieser Transport von Texten aus dem Buchzeitalter in das Computerzeitalter, in dem bestimmte, neue Formen von Textbearbeitung möglich sind. Da gerät was in Bewegung, ja, aber das Ergebnis wandert bei „Knoten und Bäuche“ wieder ins Medium des Buches, spielt mit den Dimensionen und Beschränkungen einer Buchseite. Und hier gibt es andererseits, ganz physikalisch gefasst, viele Möglichkeiten, den Eindruck von Dynamik zu erzeugen. Das hat mich mehr interessiert als eine Idee von Avantgarde. Die spielt für mich persönlich eigentlich keine Rolle.

Andreas Urban: Lesbarkeit und Autorschaft – inwiefern ist dieses Verhältnis für Sie in der digitalen Literatur wichtig? Anders gefragt: Was steht im Produktionsprozess in Ihren Augen an erster Stelle: der Computer oder der Mensch?

Jasmin Meerhoff: Bei der Nutzung von Computerprogrammen in der Literaturproduktion wird unvermeidlich die Frage aufgeworfen: Wer oder was schreibt? Wer oder was liest? Wer oder was korrigiert? Wer oder was hat hier was zu sagen? Als ich vor ein paar Jahren damit anfing, war eine Motivation, das Schaffen explizit an einen Prozess, der abläuft und mich nur wenig braucht, abzugeben. Ich hing dabei an einem postmodernen Begriff der Autorschaft, der die Autorin oder den Autor im Sinne einer aus sich schaffenden und „genialen” Instanz quasi entthront bzw. ganz abschafft. Inzwischen passt das nicht mehr und ich verstehe das Verhältnis als eine Ko-Autorschaft von Mensch und Computer. In diesem Zusammenwirken hat der Mensch sehr viel zu sagen.

Der folgende Link führt zu meiner Rezension von „Knoten und Bäuche“:

https://literaturkritik.de/meerhoff-knoten-und-baeuche,29062.html

Zur Website der Autorin und Künstlerin Jasmin Meerhoff geht es hier:

https://nervousdata.com/index.html

 

„Für mich stellt sich die Frage, wie vollständig eine Lebensrückschau sein kann.“ Ein Interview mit Sabine Schönfellner über ihren Roman „Draußen ist weit“ (2021)

Ein außergewöhnliches Buch: Dicht an starken Bildern, facettenreich in den Figuren. Mit „Draußen ist weit“ veröffentlichte Sabine Schönfellner vor wenigen Wochen ihr Romandebüt. Ich befragte sie zu einigen Kernthemen des Buches.

 

Andreas Urban: In Ihrem Roman „Draußen ist weit“ gibt es drei Episoden, in deren Zentrum Senioren stehen. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Wahl?

Sabine Schönfellner: Ich sehe weder das Erzählen über alte Menschen noch das Auftreten von mehreren zentralen Personen als ungewöhnlich. Im Schreiben hat sich herausgestellt, dass die Ich-Erzählerin mehr als eine Person begleiten wird, nach und nach haben sich deren Geschichten ergeben. Dabei geht es aber nicht darum, deren Geschichten zu Ende zu erzählen, sondern es zeigt sich für die Ich-Erzählerin (und hoffentlich auch für Leser*innen), dass ein abschließendes Erklären, eine Rückschau nicht so einfach und oft nicht zu erreichen ist.

Andreas Urban: Die Ich-Erzählerin begleitet den Heimbewohner Herrn Dober und spricht einmal von ihrem „eigenen Wald“. Doch es wird nicht aufgeklärt, was es damit auf sich hat. Generell verrät die Erzählerin wenig über sich selbst und ließe sich höchstens indirekt über ihre Reaktionen charakterisieren. Warum haben Sie die Figur eher nebulös angelegt? Warum tritt die Erzählerin nicht viel stärker in den Vordergrund?

Sabine Schönfellner: Aus meiner Sicht ist die Ich-Erzählerin zurückhaltend und etwas einsam, sie hat daher die Möglichkeit, sich eingehend mit den drei alten Menschen zu beschäftigen. Sie will sich nicht in den Vordergrund drängen, sondern helfen, was ihr nicht immer gelingt. Es erzählen eben nicht zwei alte Frauen und ein alter Mann direkt über ihr Leben, sondern wir bekommen es von jemandem vermittelt, der seine eigenen Fragen stellt oder manches eben nicht hinterfragt. So, wie wir in der Regel auch selten direkt von einem alten Menschen über dessen Leben erfahren, sondern eher über Dritte (oder über die Vermittlung durch Texte oder Filme). Damit stellt sich für mich auch die Frage, wie kohärent oder vollständig eine solche Lebensrückschau sein kann.

Andreas Urban: Ihre Erzählung „Herbstwespen“ hat den Klimawandel zum Hintergrund. Welche Rolle spielt der Umweltschutz generell für Ihr Schreiben?

Sabine Schönfellner: Für mich ging es nicht um ein abstraktes Bild des Klimawandels oder der Frage nach Umweltschutz, sondern ausgehend von einem konkreten Ort um die Frage, wie drei unterschiedliche Figuren extreme Wetterereignisse und Veränderungen wahrnehmen und erleben – und welche Eindrücke im Lesen entstehen, wenn man beginnt, die drei Figuren und ihre Wege zu vergleichen, Parallelen und Unterschiede wahrzunehmen. Welche Antworten Literatur da bieten kann – da muss man utopische, konzeptorientierte Texte heranziehen, die sich dezidiert auf die Fahnen schreiben, wie etwas werden kann oder sollte; oder sich auf die Auslegungen und Auseinandersetzungen von Literaturwissenschaftler*innen verlassen, welche Schlüsse zu ziehen sind.

Andreas Urban: Im Roman werden immer wieder Grenzen gezogen und Grenzen überschritten. Man bekommt ein Gefühl für das, was mit „weit“ gemeint ist. Also das, was von einem selbst weit weg ist. Im Roman geht es ja auch über Grenzen hinweg von Österreich bis nach Norwegen. Andererseits tauchen im Roman typisch österreichische Begriffe auf. Sprachlich eine regionale Begrenzung, die im Gegensatz zur räumlichen Weite steht. Sehen Sie in diesem „speak local“ einen Aufruf, das Regionale stärker zu schätzen? Wie verhalten sich Weite und Nähe für Sie zueinander?

Sabine Schönfellner: Eine allgemeine Antwort fällt mir hier schwer. Ich verstehe das österreichische Deutsch nicht als Regionalsprache, sondern als eine hochsprachliche Varietät des Deutschen. Da die Figuren Österreicher*innen sind, verwenden sie nicht nur Ausdrücke, sondern auch Hilfsverben und Satzkonstruktionen, die nur hier vorkommen – aber das passiert bei mir nicht als bewusstes Einsetzen, sondern entsteht aus der Sprache der Figuren.

Andreas Urban: Sie geben Kurse für literarisches Schreiben, nun ist Ihr erster Roman erschienen. Würden Sie sich als gute Schülerin bezeichnen?

Sabine Schönfellner: Ich arbeite seit mehr als zehn Jahren mit schreibenden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, im Zentrum steht dabei aber nicht das Beibringen oder Vermitteln von Konzepten, sondern die Arbeit am Text und die Frage, wie man einen konkreten Text so begleiten, kritisieren, überarbeiten, hinterfragen, stützen uvm. kann, damit er seine Form und seine Sprache findet. Ich kann keine Lehrer benennen, deren Schülerin ich bin, und weiß auch nicht, wie man die Entwicklung einer Autorin benoten würde. Ich kann dazu nur sagen, dass die Veröffentlichung eines Romans – wann sie passiert und ob überhaupt – ja nicht nur von einem selbst, sondern auch von den Bedingungen des Literaturbetriebs abhängt.

Hier gehts zur Rezension des Buches „Draußen ist weit“: https://literaturkritik.de/schoenfellner-draussen-ist-weit,28230.html

Mehr zur Autorin Sabine Schönfellner auf https://www.schoenfellner.net/.

„Ich schreibe immer so, wie es sich in meinem Kopf anhört.“ Ein Interview mit Angelina Roth über ihren Roman „Die Closerie“ (2021)

Mit leichter Hand geschrieben: Angelina Roth hat mit „Die Closerie“ einen Roman über das Kreativsein im 21. Jahrhundert verfasst. Wie sieht die Autorin ihr eigenes Schreiben? Ich führte ein Gespräch mit ihr über die Themen des Buches.

 

Andreas Urban: Wie kam es mit „Die Closerie“ zu diesem Rückgriff auf ein Künstlercafé aus dem 20. Jahrhundert? Hattest du das Thema schon länger auf dem Zettel, hat es sich durch eine konkrete Entdeckung ergeben?

Angelina Roth: Die Idee kam mir ganz spontan an einem Morgen im Dezember 2019. Gleich nach dem Aufwachen habe ich mich hingesetzt und die ersten zwei oder drei Kapitel geschrieben. Woher die Idee kam, kann ich nicht sagen. Sie war plötzlich einfach da.

 

Als Autorin schreibst du aus der Sicht eines Mannes. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Das passiert mir immer wieder. Warum? Ich weiß es nicht. Es hat sich so ergeben, auch bei meinem Debütroman „Antoine exlex“. Ehrlich gesagt ist mir die Hülle der Protagonisten auch nicht sehr wichtig. Ich glaube, ich könnte ohne größere Schwierigkeiten aus der Sicht einer Heizung oder eines Affen schreiben.

Im Buch werden Hemingway, Fitzgerald und Stein mehrfach genannt. Auch Coelho hat seine Auftritte. Wie ist dein Verhältnis zu den im Buch genannten Autoren? Die Charaktere – vor allem die Krisen und die Vergangenheit Damians – werden ja nur angedeutet. Das erinnert an die Eisbergtheorie und nach amerikanischen Vorbildern. Spielte bei deiner Schreibweise Hemingway Pate?

Es sind Autoren, deren Werke ich mag, schillernde Figuren mit einem gewissen Unterhaltungswert. Hemingways Schreibweise sagt mir zu, weil auch ich mich gerne auf das Wesentliche konzentriere. Logik und Klarheit liegen mir sehr und ich kombiniere das gerne mit dem Schönen, Humorvollen und Unbeschreibbaren. Aber trotzdem gibt es bei mir nur eine Regel: Ich schreibe immer so, wie es sich in meinem Kopf anhört.

Du hast das Thema Videocalls verarbeitet, als hättest du die coronabedingte Tendenz zum Homeoffice vorausgeahnt. Wie gehst du als Autorin mit dem Lockdown um?

Da ich als Schriftstellerin viel Zeit zuhause verbringe, hat sich für mich kaum etwas geändert. Ich habe zwischendurch immer wieder vergessen, was los ist. Da mein Mann Arzt ist, konnte ich mich der Realität aber nicht ganz entziehen. Wir haben viel über Corona gesprochen, gelegentlich auch gelacht und in letzter Zeit häufiger geflucht. Obwohl die Ruhe meinem Schreiben guttut, freue ich mich sehr, wenn Normalität und vor allem auch Lesungen wieder möglich sind.

 

In der Mitte des Romans halten sich die Figuren im Kleinbasel und im Großbasel auf, dem Zentrum Basels auf beiden Seiten des Rheins. Und sie empfinden Bruderholz als Urlaub. Wie bist du an das Thema Basel herangegangen? Es ist deine Heimatstadt. Wie war es für dich beim Schreiben, sich dieser Stadt anzunähern?

Ich habe eine gewisse Distanz zur Stadt, da ich trotz meiner Basler Wurzeln in Deutschland aufgewachsen bin. Es ist dennoch eine Herausforderung, eine Umgebung, die einem selbst so selbstverständlich erscheint, zu beschreiben. Ich frage mich: Können sich die Leser*innen vorstellen, wie es am Bahnhof aussieht, oder setze ich beim Schreiben zu viel Wissen voraus?

Im Roman werden die Probleme geschildert, literarische Texte in einem Verlag zu veröffentlichen. Die Buchszene kommt nicht besonders gut weg. Warum ziehst du es vor, dein Buch als BoD zu veröffentlichen?

Für mich ist vor allem die Freiheit wichtig, gerade für meine ersten Bücher. Ich will möglichst unbeeinflusst schreiben und mich frei entwickeln. Ich höre immer wieder die Klagen von Verlagsautoren und denke mir jedes Mal, dass ich mir das selbst lieber aufhebe für irgendwann später.

 

Du schreibst Bücher, die man vor dem Einschlafen lesen kann, sagst du. Wie schreibt man Bücher, die einen in den Schlaf begleiten?

Indem man mit seinen Worten die Gedanken nicht terrorisiert und auf Gewalt, Hässlichkeit und Brutalität verzichtet.

… und was mir noch auf den Nägeln brennt: Im Roman fahren die 3 Kreativen mit der Tram durch Basel. Johannes erzählt von seiner Ex, mit der er Tür an Tür lebte. Auf einmal beteiligen sich wildfremde Personen am Gespräch der drei. Sind die Basler tatsächlich so offen?

Ich erlebe es so, dass die Menschen wesentlich kommunikativer sind, wenn Sommer ist oder irgendein internationales Event stattfindet wie die Art Basel. Dann redet man öfter mit Fremden, gerade weil man auch öfter angesprochen und z. B. nach dem Weg gefragt wird.

Mehr über die Schriftstellerin Angelina Roth auf https://angelinaroth.ch/.