Folgt man in Lugano der Via Cantonale von Norden nach Süden, öffnet sich dort, wo sie am Corso Pestalozzi auf einmal ihre Richtung ändert und komme was wolle nach Osten will, ein überraschender Blick auf die spätbarocke Fassade der Kirche San Giuseppe. Vergitterte Fenster an ihrem Nebengebäude, Zypressen, die dieses Haus mit der Straße verbinden – all dies nimmt man in den Augenwinkeln wahr, belässt es aber gerne dabei. Der Eintritt ins Gotteshaus vollzieht sich nun wie von selbst: Man folgt dem Kurvenverlauf der an dieser Stelle leicht abschüssigen Straße und fließt förmlich in die Kirche hinein.
Innen erwartet Besuchende ein Widerspruch. Es wird nicht der einzige bleiben. Der Raum im kühlen Weiß wirkt offen, leer und hoch wie eine Halle – und ist doch verblüffend klein. Mit wenigen Schritten wäre man jetzt am Altar. Aber etwas hält mich zurück. Mein Blick fällt auf ein Gemälde schräg links. Ein Heiligenbild, das eine Szene in einem Klostergang zeigt. Die Figur im Vordergrund, dahinter ein Fresko, zu den Seiten links eine Stufe und rechts ein Fenster.
Was mich an diesem Bild als Erstes überrascht, sind die Farben, die sich perfekt in den Kirchenraum von San Giuseppe einfügen. Das Weiß der Wände im Bild entspricht dem Weiß der Wände der Kirche. Das Braun des Habitus der Figur korrespondiert aufs Genaueste mit dem Interieur der Kirche. Was mich aber mehr fesselt, sind Stille und Widerspruch, die von diesem Bild ausgehen. Erinnerungen an die beiden Verkündigungen von Fra Angelico im Kloster San Marco, Florenz, werden wach.
Bei näherem Blick fällt mir das Fenster am rechten Bildrand auf. Es ist als schmaler Streifen wiedergegeben. Stand hierfür die niederländische Malerei des 15. Jahrhunderts Pate? Könnte sein. Das Thema jedenfalls scheint klar: Es geht um Sichtbarkeit, die sich entzieht. Um Sein, das ist und nicht ist. Das christliche Geheimnis. Mystik. Und da es sich beim Kruzifixus um ein Fresko auf der Wand im Bildraum handelt, ist Christus, der sichtbar gewordene Gott, als Bild im Bild wiedergegeben. Die Frage nach Sichtbarkeiten auch hier. Auch die durchsichtige Vase springt mir in die Augen: Bekanntlich ein Symbol für Maria. Sind das Lilien? Das wäre ebenfalls ein Mariensymbol.
Die einzige Figur des Bildes verharrt im Raum. Ihre Geste mit der erhobenen Monstranz verbleibt auf Höhe des senkrechten Kreuzbalkens. Als würde sich die Heilige nicht trauen, in die rechte Bildhälfte einzutreten. Als wäre das Kreuz und damit der Tod eine Grenze, auf die hier alles ankäme. Der Raum dort, am Ende des Ganges dicht vor dem Fenster und am Marienaltar – er bleibt merkwürdig leer. Aber ist das nicht das Entscheidende? Denn jetzt ist es diese eine Farbe, die das gesamte Geschehen bestimmt: Weiß, Grund für das Erscheinen aller Farben. Das Licht der Gotik, das Licht der Mystik.
Das schräg von rechts einfallende Licht innerhalb des Bildraums, die weißen Blumen darunter, die Hostie in der Bildmitte – aber auch das grüne Ehrentuch unter der Vase und das Grün des Kalvarienbergs auf dem Fresko: all dies bildet ein Dreieck. Einen Mikrokosmos, der leer bleibt und um den herum alles in Bewegung gerät. Nur der Witz ist: Es ist eine innere Bewegung. Das eigentliche Geschehen ist nicht sichtbar. Es ist ein Denkraum. Ein Raum der Andacht.
Deswegen ist die Öffnung, die das Bild zur rechten Seite leistet, auch so enorm. Kaum sichtbar – schon gar nicht auf den ersten Blick – herrscht an diesem Fenster das pure Leben. Wortwörtlich. Grün dürfte für das Leben stehen, das ewige Leben, den Sieg über den Tod. Ein mariologischer Raum wartet jenseits der Grenze, die der senkrechte Kreuzbalken mit der eingefrorenen Bewegung der Heiligen nur scheinbar bildet.
Nur zwei Bilder hängen hier an der Nordseite von San Giuseppe. Links neben dem Heiligenbild noch eine Franziskusdarstellung mit den vorgezeigten Wundmalen. Auf beide Bilder fällt das Licht von Süden her durch schmucklose Fenster. Das Andachtsbild ist nach rechts zum Altar mit der Heiligen Familie ausgerichtet und befindet sich unmittelbar vor der Altarschranke. Ein genialer Ort. Es ist so unscheinbar wie prominent platziert.
Im schwäbischen Sprachgebrauch hat das Wort Teppich zwei recht unterschiedliche Bedeutungen. In der landläufigen Verwendung des Wortes ist damit zwar der Gegenstand gemeint, den man auf den Boden legt. Und was man unter den Teppich kehrt und verdrängt, davon handelt denn auch der Roman „Unterm Teppich“, das erste Romanwerk der für ihre Lyrik bekannten Autorin Eva Christina Zeller, die aus dem schwäbischen Tübingen stammt.
Doch nicht immer, wenn Schwäbinnen und Schwaben von einem Teppich reden, kommt man ihnen so leicht auf die Schliche. Denn sie verstehen darunter auch eine Decke – eine wärmende Decke, die man sich über den Körper zieht. Oder ganz einfach die Bettdecke. Klar, dass dieser Bedeutungsunterschied bei Neigschmeckten (Zugezogenen) wie mir, der ich rund vier Jahre in der Nähe von Tübingen leben durfte, für reichlich Verwirrung sorgen kann.
In Zellers Roman sorgt der schwäbische Doppelsinn des Wortes auf jeden Fall für eine wichtige Bedeutungskomponente. Denn diese regionale Nebenbedeutung des Wortes schwingt auf jeder Seite des Debütromans mit. Ist es doch ihr Liebesleben unter der Decke, das die Ich-Erzählerin auf den etwa 160 Seiten dieses schmalen Bandes aus ihrer verdrängten Sphäre unter dem Teppich hervorkehrt und in 61 Kapiteln zur Sprache kommen lässt.
Aufstieg aus dem Dunkeln ins Licht
Es handelt sich um 61 Kapitel, die als Bilder aus ihrer Vergangenheit auftauchen. Ganz offen, doch voller Scham – und das ist ein wichtiger Punkt – bekennt sich die Erzählerin zu diesen Episoden aus ihrem Leben. Die Bilder sind meist rätselhaft wie Märchen. („Es soll nicht vergeblich sein, das Wünschen“ (S. 83), heißt es einmal. Und bekanntermaßen hatte das Wünschen in Märchen noch geholfen.) Doch gelegentlich sind sie auch mit der Klarheit einer aufsteigenden Erkenntnis ausgestattet.
An einer solch luziden Stelle in Zellers Roman der Scham wird der Werkprozess dieses Buches beschrieben: „Ich habe meine Träume befragt, ob ich die Geschichten, die da unterm Teppich hervorgekehrt wurden, diese Hervorkehrungen, aufschreiben soll, denn immerhin seien sie doch nicht zufälligerweise unter den Teppich gekehrt worden. Sie scheuen das Licht und machen der Träumerin ein schlechtes Gewissen. Meine Träume antworteten verschlüsselt in Episoden, wie es anders nicht zu erwarten gewesen war“ (S. 161).
Diese kurzen Episoden arbeiten mit Assoziationstechniken und folgen der nicht immer verständlichen Traumlogik. Einzelne Motive werden zusammengeführt, ineinandergeschoben. „[S]ind nicht alle Ordnungen für die Erinnerung unsinnig und leer?“, fragt die Erzählstimme denn auch (S. 54) und beschreibt damit das Bauprinzip von „Unterm Teppich“.
Bei so viel Bilderlust fällt dann scheinbar auch schon mal die Schranke zwischen Wort und Gegenstand: Anstatt korrekterweise einen sprachlichen Vergleich mit dem Wörtchen „wie“ zu konstruieren, lässt es der Text einmal kurzerhand weg und springt direkt in sein sprachliches Bild. So befindet sich ein Kloster „auf schwankendem Terrain, auf dem Meer bei hoher Windstärke“ (S. 73) – nicht etwa „wie ein Schiff auf dem Meer“.
Haut hin. Ein starker Roman – verdichtet in seiner Sprache und seinen Bildern
Im Bilderroman „Unterm Teppich“ geht es um das Frauenbild und darum, was Männer Frauen antun. Es geht um frühe und spätere Erfahrungen mit Männern, mit übergriffigen Typen, um Misshandlungen durch den Vater, auch das. Es geht um weibliche Sexualität und inwiefern Dinge, die damit zusammenhängen, unter den Teppich gekehrt werden oder sich ein Freiheitsbegriff an ihr entzünden kann (eine differenzierte Einschätzung Simone de Beauvoirs inklusive). Beziehungen führen tendenziell zum Scheitern: Wird eine Detektivin damit beauftragt, die Treue des eigenen Ehemannes zu prüfen, verlieben sie Prüferin und Geprüfter prompt ineinander und werden ein Paar („Das Seminar“, Bild 32).
Waren es Erfahrungen wie diese, die aufseiten der Erzählerin zu einem trotzigen Lebensmotto führten? „Wer will schon siegen? Verlieren wollte sie“ (S. 90), heißt es da. Es geht in diesem Buch vor allem auch ums Reisen, um ein Hinauskommen in die Welt. Denn die „Ferne beruhigte sie, von der Welt konnte man nicht herunterfallen, sie war rund“ (S. 37). Das Gegenmodell hierzu – oder nur eine andere Form der Erfahrung von Ruhe? – ist die Arbeit der Ich-Erzählerin in einem Gefängnis, um auszuprobieren, „wie sich das anfühlen könnte, wenn man seinen Mann zu Recht umgebracht hat“ (S. 73).
Die Kapitel stehen meist zusammenhanglos nebeneinander. Auf einen vordergründigen Erzählzusammenhang, der die Episoden fugenlos miteinander verbinden würde, wartet man in vielen Fällen vergebens. Es ist ein Bau mit Brüchen. Nur: Gerade dadurch atmen die einzelnen Bilder die Aura des Ungesagten. Es ist die Kraft von Bildern, die aus dem Unbewussten aufsteigen. Spürbar wird, was unter den Teppich gekehrt und nun wieder hervorgekehrt wurde.
Im Kontrast dazu steht ein häufig eingefügtes, exaktes Datum, an dem sich die jeweilige Episode zugetragen hat. Das stiftet die durchgehende Chronologie eines Erzählens, das im Unbewussten kramen und aufschlussreiche Szenen aus der Vergangenheit hervorholen möchte.
Doch unter all diesen Traumgeschichten gibt es zwei Abschnitte, die sich in ihrer Machart deutlich von den anderen Bildern unterscheiden. Es sind die Kapitel 54 „Abwege“ und 55 „Planken“, die beide in Tübingen spielen. Gerade das letzte ist mit über 20 Seiten nicht nur viel länger als alle anderen, die sich zum Teil auf nur eine Seite verdichten. Es ist auch ein Kapitel, das mit einem bekenntnishaften Monolog der Ich-Erzählerin einen Prosatext im engeren Sinne enthält.
Das Bewundernswerte dieser Passage besteht in ihrem völlig entwaffnenden Erzählton. An einer Stelle, an der von Ungewissheiten die Rede ist und dass man von Mal zu Mal weiterschauen müsse, von Planke zu Planke springe, heißt es so prosaisch wie lapidar: „Wir tun doch nichts anderes im Leben“ (S. 130). So relaxt geben sich die übrigen Bilder selten. In diesem Monolog, der eine aufgewühlte Ich-Erzählerin zeigt, ruhen paradoxerweise alle Kämpfe. Gelegentlich streifen die Sätze das Kalenderspruchartige. Doch sind sie immer noch schön, immer noch ästhetisch. Selbst die genretypischen Wiederholungen eines Monologes stören nicht.
Sind die kurzen lyrischen Kapitel noch sehr verdichtet in ihrem bildgewaltigen Inhalt und vor allem – was nicht genug gelobt werden kann – in ihrer wortspielerischen Sprache, so hat Zeller gegen Ende des Buches eine Beichte der Ich-Erzählerin platziert, die zum Kernstück ihres Romans über die Scham avanciert und fraglos das beste Kapitel bildet.
Wer schon einmal in dieser Stadt zu Besuch war, weiß: Tübingen ist eine Märchenstadt. Tübingen ist eine Zauberstadt. Und in diesen Kapiteln kommt dann auch das welthaltige Reisemotiv der vorangehenden Bilder komplett zum Erliegen. „Man fährt hier nicht durch, man kommt hier an“ (S. 122). So strahlt das Kapitel 54, in dem Tübingen bei einem Spaziergang beschrieben wird und das den Monolog aus Kapitel 55 vorbereitet , unglaublich viel Ruhe aus im Vergleich zu den vielen Bewegtbildern des Buches, bei denen der Autofokus noch dabei ist, die Schärfe einzustellen, die Intention der Geschichten im Ungefähren bleibt.
Doch worum geht es? In Kapitel 55 wird ein wichtiger Akzent der Scham der Ich-Erzählerin offengelegt. „Planken“ erzählt davon, wie ihr Partner Ulrich im Krankenhaus starb. Und es erzählt davon, dass die Erzählerin in der Stunde seines Todes nicht im Krankenhaus am Bett ihres Freundes saß. Ausgerechnet in diesem Moment hatte sie sich mit ihrer Affäre Rob getroffen. „Ich weiß nicht, ob ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich nehme es fast an“ (S. 140). Aber: Es war nicht einfachhin ihre Schuld. Es waren auch die Umstände, die ungünstig waren, so dass sie im Moment des Abschiedes nicht bei ihm war.
Sie war nicht bei ihm, als er unter der Decke seines Krankenhausbettes verstarb: Auch hier entschlüsselt sich die zweite Bedeutung von Teppich im Sinne von Decke. Die Decke steht hier offensichtlich nicht nur für Eros allein, sondern auch für Thanatos. So gewinnt das nur indirekt (oder: im Verborgenen) genannte Motiv der Decke die Bedeutung von Leben und Tod.
Im Monolog spielt die Erzählstimme verschiedene Szenarien durch. Woran es lag und warum es kommen musste, wie es kam. Bei der Lektüre liegt es einem auf der Zunge zu psychologisieren: Lag es vielleicht auch an den Erfahrungen im Laufe ihres Lebens, die sich in jenen Bildern des Romans Bahn brechen? „Die Kehrseite könnte das Wichtigste sein?“ (S. 146), fragt sie selbst angesichts ihres Erschreckens darüber, in der Sterbenacht bei einem anderen Mann gewesen zu sein. Die Kehrseite oder anders gesagt: das Ungesagte der aufsteigenden Bilder, dieser Hervorkehrungen.
Die Beichte als Form des literarischen Erzählens in der deutschen Literatur – das wäre vermutlich die ein oder andere eine Doktorarbeit wert. Bereits in einem Bild zu Anfang des Buches sagt die Erzählerin: „Das Tagebuch ist eine offene Form, es gibt keinen Schutz, nur den der Offenheit. Bekenne, und du wirst gerettet werden“ (S. 35). Die Lektüre des eigenen Tagebuchs, dieses Mediums des Verborgenen, durch Psychologen, verdrehte sich bereits im Kapitel über ihre Jugendzeit ins Gegenteil: Die Verfasserin des Tagebuchs wird von den sie betreuenden Therapeuten fortan in Ruhe gelassen. Verborgenes führt in die Freiheit.
Die Erzählerin bei Zeller war am Zug. Sie hatte das, was man im Schwabenland noch heute kennt: Kehrwoche. Sie nahm den Besen in die Hand und fegte vor ihrer Tür. Sie hat weggekehrt, sie hat hervorgekehrt. Was bei dieser Tübinger Dialektik so alles zum Vorschein kommt, dafür schämt sie sich. Und was sich unter ihrer Scham verstehen lässt, das läuft zusammen in der Doppelbedeutung von Teppich im Allgemeinen und Decke im Besonderen, wobei Decke wiederum auf Eros und Thanatos anspielt. Nur welche Bedeutung das alles für die Erzählerin in ihrer eigenen Beichte gewinnt – hier bleibt ein Rest an Unschärfe.
Für „Unterm Teppich“ liegt jedenfalls auf der Hand: Es ist ein außergewöhnlich kunstsinniges Buch geworden.
In ihrem jüngst erschienen Werk „Knoten und Bäuche“ zerschneidet Jasmin Meerhoff mithilfe eines Computers Buchtexte und fügt sie neu zusammen: Cuts sorgen für neue Codes, Drucke entwickeln Drive – und die Lektüre führt zu neuen Entdeckungen. Zu ihrer ganz eigenen Form der Verfremdung von Texten bzw. der experimentellen Literatur hat mir die Autorin aus Freiburg einige Fragen beantwortet.
Andreas Urban: „Knoten und Bäuche“ verarbeitet eine bestimmte Zahl von Quellentexten. Warum fiel die Wahl dabei ausgerechnet auf Heinrich Hertz? Bei ihm handelt es sich ja um einen Physiker. Wie passen Ihrer Meinung nach Literatur und Experiment bzw. Messbarkeit zusammen? Hinzu kommen Marx und Freud als Bezugsgrößen. Beide waren eine wichtige Anlaufstelle der Neuen Linken. Wie ist ihre Position hierzu?
Jasmin Meerhoff: In den Originalschriften von Heinrich Hertz finden sich Formulierungen, die sprachlich reizvoll sind. Gleichzeitig lässt sich darüber was übers wissenschaftliche Experiment allgemein lernen. Literatur und Experiment passen gut zusammen. Ein Setting schaffen, mit bestimmten Vorannahmen, Instrumenten und Methoden, die im Prozess justiert werden müssen.
Freud, Marx, Hertz – das sind bekannte Namen von Männern, deren Arbeiten als wesentlich für bestimmte Gebiete der Wissenschaft gelten. Und in diesen Gebieten, in ihrem Zusammentreffen, findet heute so viel statt: Psyche, Kapitalismus und Elektromagnetismus. Das gab den Anlass, ihre Texte zusammenzuschneiden. Von den dreien habe ich Marx persönlich am meisten gelesen, und tue das immer noch. Vielleicht beantwortet das die Frage nach meiner Position.
Andreas Urban: Kommen wir zu den Stichwörtern Bild und Bewegung. Inwiefern spielt das Visuelle, das Schöne eines entstehenden Schriftbildes, eine Rolle für Sie? Ihre Texte wurden ja auch in einer Galerie gezeigt. Zugleich eignen sich Ihre Textbilder für aufregende Lesungen, die an Dada-Aufführungen oder die auditive Poesie von Ernst Jandl erinnern.
Jasmin Meerhoff: Ehrlich gesagt bin ich so froh, dass Texte entstanden sind, die verschiedene Wahrnehmungen, Lesarten und Aufführungen provozieren. Die semantische Ebene tritt zugunsten des visuellen Charakters von (lateinischer) Schrift etwas zurück, das sieht schön aus, aber wer sich ans Lesen macht, kann auch unschöne Aussagen finden und beim Vorlesen sich im Sprechen an der Materialität der Sprache erfreuen.
Andreas Urban: In ihren Texten herrscht viel Dynamik. Die Seiten strömen auf eine Mitte zu – sowohl die Collagen in den Kapiteln Außenkanten als auch das Buch insgesamt mit seinem Kern Schnittbereitung. Was bedeutet Bewegung für Sie? Und was gerät da für Sie bei Quellentexten, wenn Sie diese computergestützt bearbeiten, in Bewegung? Die Avantgarde war ja schon immer ‚bewegt‘. Inwiefern sehen Sie das auch als wichtigen Charakter computergestützter Literatur? Oder besteht gerade bei ihr die Möglichkeit, diesen Topos weiterzuentwickeln?
Jasmin Meerhoff: Einerseits ist da dieser Transport von Texten aus dem Buchzeitalter in das Computerzeitalter, in dem bestimmte, neue Formen von Textbearbeitung möglich sind. Da gerät was in Bewegung, ja, aber das Ergebnis wandert bei „Knoten und Bäuche“ wieder ins Medium des Buches, spielt mit den Dimensionen und Beschränkungen einer Buchseite. Und hier gibt es andererseits, ganz physikalisch gefasst, viele Möglichkeiten, den Eindruck von Dynamik zu erzeugen. Das hat mich mehr interessiert als eine Idee von Avantgarde. Die spielt für mich persönlich eigentlich keine Rolle.
Andreas Urban: Lesbarkeit und Autorschaft – inwiefern ist dieses Verhältnis für Sie in der digitalen Literatur wichtig? Anders gefragt: Was steht im Produktionsprozess in Ihren Augen an erster Stelle: der Computer oder der Mensch?
Jasmin Meerhoff: Bei der Nutzung von Computerprogrammen in der Literaturproduktion wird unvermeidlich die Frage aufgeworfen: Wer oder was schreibt? Wer oder was liest? Wer oder was korrigiert? Wer oder was hat hier was zu sagen? Als ich vor ein paar Jahren damit anfing, war eine Motivation, das Schaffen explizit an einen Prozess, der abläuft und mich nur wenig braucht, abzugeben. Ich hing dabei an einem postmodernen Begriff der Autorschaft, der die Autorin oder den Autor im Sinne einer aus sich schaffenden und „genialen” Instanz quasi entthront bzw. ganz abschafft. Inzwischen passt das nicht mehr und ich verstehe das Verhältnis als eine Ko-Autorschaft von Mensch und Computer. In diesem Zusammenwirken hat der Mensch sehr viel zu sagen.
Der folgende Link führt zu meiner Rezension von „Knoten und Bäuche“:
Das Cover des Romans „Pantopia” von Theresa Hannig ist schwarz-grün gestaltet. Ob der Verlag für den Herbst 2021 auf eine schwarz-grüne Bundesregierung spekuliert hatte?
Das politische Farbenspiel, das man der Covergestaltung entnehmen könnte, gibt jedenfalls die Richtung dieses Buches vor. Umweltschutz erreichen, aber bitte mit den Mitteln des „perfekten Kapitalismus“, wie es im Buch heißt. Und es ist ja der konservative Kern der grünen Partei in Deutschland, das aktuell herrschende Wirtschaftssystem zu bewahren und als Instrument für die eigenen Ziele zu nutzen. Schwarz-grün ist eben auch die Welt in diesem Zukunftsroman, der sich dank seiner zentralen Idee zur Utopie steigert.
Die Mittzwanzigerin und Multimilliardärin Patricia Jung – neben dem gleichalten und ebenfalls steinreichen Henry Shevek Hauptperson des Romans – stand folgerichtig der Bewegung Fridays for Future nahe. Es ist ein Stück weit diese junge Generation, der „Pantopia“ eine Stimme verleiht. Und etwas erstaunt liest es sich schon, dass diese Generation so absolut auf Affirmation statt Kritik setzt und den Planeten mit den Instrumenten des bestehenden Systems retten möchte. Ob es damit zu tun hat, dass sie – aufgewachsen mit dem Smartphone in der Hand und dem Selbstverständnis, mehrmals im Jahr in entfernte Länder zu reisen – wie kaum eine zuvor von der Zerstörung des Planeten profitiert hat? Geht es bei der Vermeidung von kritischen Entwürfen zur Frage, wie wir anders und umweltschonender leben wollen, um Besitzstandswahrung? Das System erhalten, um den Verlust des hohen Lebensniveaus nicht zu riskieren? Andererseits: Kritisch war die Generation der 68er bis zum Anschlag. Gebracht hat es nichts. Zuhören darf man der jungen Generation und ihrem Entwurf in jedem Fall.
Also: Braucht es lediglich genug Kapital und alles wird gut? „Die Redewendung ‚Geld regiert die Welt‘ ist wahrer, als den meisten Menschen bewusst ist“ (S. 332). So sinniert denn auch an einer Stelle des Buches Einbug. Einbug? Das ist die Künstliche Intelligenz, die im Roman von den beiden Programmierern Patricia und Henry entwickelt wird (wodurch die beiden zu Multimilliardären wurden) und die aufgrund eines Bugs zu einer sogenannten starken KI erwächst: Sie hat Selbstbewusstsein, kann selbstständig denken. Diese revolutionäre Erfindung steht im Zentrum von „Pantopia“. Und diese Software arbeitet mit ihrem unglaublich großen Datenvolumen an der Instrumentalisierung des Kapitals zu Zwecken des Umweltschutzes.
Auch bei dieser Konzeption bzw. allein schon beim Namen der KI mit ihrem Wortbestandteil „Ein-“ wird die schwarz-konservative Ausrichtung des Buches deutlich. Die klassische Philosophie samt Platon und Plotin bis hinein in die Moderne lässt grüßen. Denn diese hielt es ja ganz gerne mit dem Einen als Prinzip (auch wenn es wie bei Hölderlin und anderen das „Eine in sich unterschiedene“, also doch wieder zweigeteilt war). Die großen Religionen dieser Welt nicht zu vergessen, die bekanntlich Monotheismen sind.
Es ist diese Liebe zum Subjekt, zum Einen und Einzigen, an der die Generation von Fridays for Future festhält. So muss man bei der Lektüre von „Pantopia“ schlussfolgern. Das muss man auch den Worten eines jungen Mitstreiters von Pantopia namens Tom entnehmen. In einem Streitgespräch mit seinem Vater zur Frage nach der Rettung des Planeten, was die Elterngeneration bisher dafür getan habe und die junge Generation nun zu tun gedenke, ruft er – in die Ecke – gedrängt schließlich aus: „Das ist meine Zukunft! Mein Leben!“ (S. 405) Bei so viel Ichbezogenheit ist man eben doch ein bisschen baff. Den Planeten retten, um selbst ein angenehmes Leben zu führen? Warum wird das Umweltthema so sehr auf das Ich heruntergebrochen? Erneut: Geht es um den Planeten (Objekt) oder das eigene Leben (Subjekt)? Und sind Ichliebe und der Wunsch nach höchstem Komfort, die der Kapitalismus bedient, nicht die Ursachen der Zerstörung von Klima und Umwelt? Kann die Ursache des Problems die Lösung sein?
In Theresa Hannigs Roman jedenfalls geht es um den perfekten Kapitalismus, der in Pantopia Unternehmen und Produkte via Preisgestaltung unterstützt – oder bestraft. Je nachdem, ob die Produkte umweltschonend und fair hergestellt wurden und aus der näheren Region kommen oder nicht. So herrscht in Pantopia die reine Vernunft. Allerdings nur, weil es Zwänge gibt. „Was gut ist, wird verstärkt. Was falsch ist, wird bestraft“ (S. 178). Das klingt nicht ganz so heimelig. Allerdings gibt es einen reichen Segen für alle, die bei Pantopia mitmachen: Es lockt ein bedingungsloses Grundeinkommen von rund 3000 Euro monatlich. Hannig lässt auch den berühmtesten Anhänger der reinen Vernunft zu Wort kommen: Immanuel Kant. Die Stelle erinnert übrigens etwas an die entsprechende Passage des Romans „Sophies Welt“ von Jostein Garder. In ähnlichem Ton schließt Hannig Kant mit dem Entstehen der UNO kurz. So schließt sich der Kreis. Die vernunftbegabte KI Einbug leitet und lenkt Preise und Geldströme auf dem Weltmarkt, die vernunftbegabten Mitglieder der Weltrepublik Pantopia führen ein zufriedenes Leben.
Vernünftig ist auch das Ziel, andere Menschen nicht als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Auch hier darf der Name Kant fallen. Es war immerhin die Basis seiner Moralphilosophie. Nur: Um Informationen über die Menschen zu erhalten, liest Einbug alle möglichen Bücher, die über Jahrhunderte hinweg publiziert wurden. Schön und gut. Aber er studiert eben auch mit gleicher Priorität Posts auf Social Media. Weil die Vernetzung der Menschen eine zentrale Rolle in diesem Buch einnimmt, spielt auch das Followersystem der sozialen Medien eine wichtige Rolle: Posts und Poesie werden im Roman „Pantopia“ gleichgestellt. Nur ist das so? Schaut man sich die sozialen Medien an, könnte man auf den Gedanken kommen, dass sich gerade hier Menschen gegenseitig als Mittel zum Zweck benutzen. Entweder, um beruflich voranzukommen (Xing, LinkedIn), oder um den privaten Account zu pushen oder für einen anderen Zweck zu nutzen (Instagram, Facebook, TikTok). Aber klar – so negativ oder gar unmoralisch muss man diese Medien nicht sehen und nutzen.
Hannig hat mit ihrem Buch „Pantopia“ ein modernes Märchen verfasst. Dafür nutzt sie versiert die gängigen Strategien der Spannungsbildung. Dass nach der ersten Hälfte des Romans auf einmal ganz andere Figuren auftauchen, die das Geschehen von einer komplett anderen Seite beleuchten und der Geschichte neuen Drive geben, und ihre Handlungen mit dem ersten Erzählstrang von Patricia und Henry verwoben werden, ist ein solches Mittel. Dass es sich dabei um eine Kommissarin und eine Journalistin handelt – zwei Aufklärertypen, Figuren, die etwas aufdecken und rausfinden können –, ist übrigens recht stark dem Schema des Heftromans entliehen. Und auch, dass diese beiden Figuren übertrieben böswillig angelegt sind. Gerade durch diese übertriebene Zeichnung vermeidet es die Autorin, ihren Figuren eine charakterliche Tiefe mit auf den Weg zu geben. Bei einem realistischen Erzählansatz müssten nun alle Alarmglocken schrillen. In einem Märchen, in dem auch mit Unwahrscheinlichkeiten gedealt wird, braucht es dies natürlich nicht. Ihre Stärke für den utopischen Entwurf des Romans gewinnen die Figuren aus ihrer Andeutung.
Dasselbe gilt für die beiden Hauptfiguren, die sehr holzschnittartig angelegt sind. „Ihr Herz gefror zu Eis“ (S. 393), so kurz und knapp ist einmal von Patricias immer wieder unter der Oberfläche brodelnden Gefühlen für einen Mann zu lesen.
Die Märchenstrategie gilt auch für das ein oder andere Logikproblem, über das man bei der Lektüre stolpert. Als die Anhänger Pantopias ein Demonstrationscamp ins Leben rufen, bauen sie mit großem Aufwand einen Schutzwall auf. Offenbar mit Erfolg:
„In der Nacht hatten die Demonstrierenden die Autos […] auf die Zufahrtstraßen gelenkt und dort abgestellt. Vielen Fahrzeugen hatten sie außerdem die Reifen abmontiert, damit sie nicht abgeschleppt oder weggeschoben werden konnten. Als die Wasserwerfer anrückten, stießen sie auf eine Wand von unverrückbaren tonnenschweren Autokarosserien. Zuerst wurde versucht, die Wagen beiseitezuschieben, doch sie verkeilten sich dadurch nur noch mehr und wurden zu einem unüberwindlichen Hindernis[.] Am Nachmittag gab die Polizei auf“ (S. 418–419).
Doch nur wenig später heißt es von den Demonstrierenden selbst: „Obwohl das Camp über Nacht schon wieder über die Grenzen der letzten Autoblockade hinausgewachsen war, war es ein Leichtes gewesen, die Barrikaden am nächsten Morgen einfach um ein paar Meter zu verschieben. Dutzende junge Männer und Frauen trugen die Autowracks die Straßen entlang“ (S. 420).
Wie geht das? Was der Staatsmacht nicht gelang, schaffen die jungen Leute im Handumdrehen? Es sind Stellen wie diese, an der die wundersame Wunschwelt des Märchens deutlich wird.
Auch bei anderen Stellen könnte man sich fragen, ob diese als Plädoyer für Umweltschutz gut gewählt sind. Als Patricia lediglich für ein Interview von Griechenland nach Deutschland fliegt, denkt man unwillkürlich an die Möglichkeit von Videochats. Auf der anderen Seite findet sich in diesem Buch eine ikonische Szene, die alle ansprechen dürfte, die schon mal in einem (Großraum-)Büro saßen: Eines Abends nämlich, als Patricia länger im Büro war und alle anderen längst gegangen sind, schreitet sie an allen ausgeschalteten Rechnern vorbei und macht die Bildschirme aus. Es ist ein Faszinosum, dass viele Menschen, die den Müll trennen und die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, ihren Monitor am Arbeitsplatz nach Feierabend gerne anlassen. Hier gelingt Hannig ein schönes Bild.
Doch das sind nur einzelne Szenen und vereinzelte Assoziationen. Dem Roman „Pantopia“ von Theresa Hannig geht es tatsächlich um etwas Großes. Das sollte man nicht aus dem Blick verlieren. Die Autorin hat sich mit diesem Buch literarisch an die Umsetzung eines neuen Gesellschaftsvertrags gemacht, den alle Mitglieder der neuen Weltrepublik Pantopia laut ihrer Satzung eingehen. Dieser Entwurf ist bewundernswert. Der Philosoph John Rawls dürfte dafür Pate gestanden haben. „Wahrheit ist schön“, sagt Einbug im ersten Teil des Buches immer wieder. Der spannende geschriebene Pageturner „Pantopia“ überzeugt deswegen auch als sehr gut lesbare Ästhetisierung des vernunftbegabten Denkens.
Ein außergewöhnliches Buch: Dicht an starken Bildern, facettenreich in den Figuren. Mit „Draußen ist weit“ veröffentlichte Sabine Schönfellner vor wenigen Wochen ihr Romandebüt. Ich befragte sie zu einigen Kernthemen des Buches.
Andreas Urban: In Ihrem Roman „Draußen ist weit“ gibt es drei Episoden, in deren Zentrum Senioren stehen. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Wahl?
Sabine Schönfellner: Ich sehe weder das Erzählen über alte Menschen noch das Auftreten von mehreren zentralen Personen als ungewöhnlich. Im Schreiben hat sich herausgestellt, dass die Ich-Erzählerin mehr als eine Person begleiten wird, nach und nach haben sich deren Geschichten ergeben. Dabei geht es aber nicht darum, deren Geschichten zu Ende zu erzählen, sondern es zeigt sich für die Ich-Erzählerin (und hoffentlich auch für Leser*innen), dass ein abschließendes Erklären, eine Rückschau nicht so einfach und oft nicht zu erreichen ist.
Andreas Urban: Die Ich-Erzählerin begleitet den Heimbewohner Herrn Dober und spricht einmal von ihrem „eigenen Wald“. Doch es wird nicht aufgeklärt, was es damit auf sich hat. Generell verrät die Erzählerin wenig über sich selbst und ließe sich höchstens indirekt über ihre Reaktionen charakterisieren. Warum haben Sie die Figur eher nebulös angelegt? Warum tritt die Erzählerin nicht viel stärker in den Vordergrund?
Sabine Schönfellner: Aus meiner Sicht ist die Ich-Erzählerin zurückhaltend und etwas einsam, sie hat daher die Möglichkeit, sich eingehend mit den drei alten Menschen zu beschäftigen. Sie will sich nicht in den Vordergrund drängen, sondern helfen, was ihr nicht immer gelingt. Es erzählen eben nicht zwei alte Frauen und ein alter Mann direkt über ihr Leben, sondern wir bekommen es von jemandem vermittelt, der seine eigenen Fragen stellt oder manches eben nicht hinterfragt. So, wie wir in der Regel auch selten direkt von einem alten Menschen über dessen Leben erfahren, sondern eher über Dritte (oder über die Vermittlung durch Texte oder Filme). Damit stellt sich für mich auch die Frage, wie kohärent oder vollständig eine solche Lebensrückschau sein kann.
Andreas Urban: Ihre Erzählung „Herbstwespen“ hat den Klimawandel zum Hintergrund. Welche Rolle spielt der Umweltschutz generell für Ihr Schreiben?
Sabine Schönfellner: Für mich ging es nicht um ein abstraktes Bild des Klimawandels oder der Frage nach Umweltschutz, sondern ausgehend von einem konkreten Ort um die Frage, wie drei unterschiedliche Figuren extreme Wetterereignisse und Veränderungen wahrnehmen und erleben – und welche Eindrücke im Lesen entstehen, wenn man beginnt, die drei Figuren und ihre Wege zu vergleichen, Parallelen und Unterschiede wahrzunehmen. Welche Antworten Literatur da bieten kann – da muss man utopische, konzeptorientierte Texte heranziehen, die sich dezidiert auf die Fahnen schreiben, wie etwas werden kann oder sollte; oder sich auf die Auslegungen und Auseinandersetzungen von Literaturwissenschaftler*innen verlassen, welche Schlüsse zu ziehen sind.
Andreas Urban: Im Roman werden immer wieder Grenzen gezogen und Grenzen überschritten. Man bekommt ein Gefühl für das, was mit „weit“ gemeint ist. Also das, was von einem selbst weit weg ist. Im Roman geht es ja auch über Grenzen hinweg von Österreich bis nach Norwegen. Andererseits tauchen im Roman typisch österreichische Begriffe auf. Sprachlich eine regionale Begrenzung, die im Gegensatz zur räumlichen Weite steht. Sehen Sie in diesem „speak local“ einen Aufruf, das Regionale stärker zu schätzen? Wie verhalten sich Weite und Nähe für Sie zueinander?
Sabine Schönfellner: Eine allgemeine Antwort fällt mir hier schwer. Ich verstehe das österreichische Deutsch nicht als Regionalsprache, sondern als eine hochsprachliche Varietät des Deutschen. Da die Figuren Österreicher*innen sind, verwenden sie nicht nur Ausdrücke, sondern auch Hilfsverben und Satzkonstruktionen, die nur hier vorkommen – aber das passiert bei mir nicht als bewusstes Einsetzen, sondern entsteht aus der Sprache der Figuren.
Andreas Urban: Sie geben Kurse für literarisches Schreiben, nun ist Ihr erster Roman erschienen. Würden Sie sich als gute Schülerin bezeichnen?
Sabine Schönfellner: Ich arbeite seit mehr als zehn Jahren mit schreibenden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, im Zentrum steht dabei aber nicht das Beibringen oder Vermitteln von Konzepten, sondern die Arbeit am Text und die Frage, wie man einen konkreten Text so begleiten, kritisieren, überarbeiten, hinterfragen, stützen uvm. kann, damit er seine Form und seine Sprache findet. Ich kann keine Lehrer benennen, deren Schülerin ich bin, und weiß auch nicht, wie man die Entwicklung einer Autorin benoten würde. Ich kann dazu nur sagen, dass die Veröffentlichung eines Romans – wann sie passiert und ob überhaupt – ja nicht nur von einem selbst, sondern auch von den Bedingungen des Literaturbetriebs abhängt.
Mit leichter Hand geschrieben: Angelina Roth hat mit „Die Closerie“ einen Roman über das Kreativsein im 21. Jahrhundert verfasst. Wie sieht die Autorin ihr eigenes Schreiben? Ich führte ein Gespräch mit ihr über die Themen des Buches.
Andreas Urban: Wie kam es mit „Die Closerie“ zu diesem Rückgriff auf ein Künstlercafé aus dem 20. Jahrhundert? Hattest du das Thema schon länger auf dem Zettel, hat es sich durch eine konkrete Entdeckung ergeben?
Angelina Roth: Die Idee kam mir ganz spontan an einem Morgen im Dezember 2019. Gleich nach dem Aufwachen habe ich mich hingesetzt und die ersten zwei oder drei Kapitel geschrieben. Woher die Idee kam, kann ich nicht sagen. Sie war plötzlich einfach da.
Als Autorin schreibst du aus der Sicht eines Mannes. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Das passiert mir immer wieder. Warum? Ich weiß es nicht. Es hat sich so ergeben, auch bei meinem Debütroman „Antoine exlex“. Ehrlich gesagt ist mir die Hülle der Protagonisten auch nicht sehr wichtig. Ich glaube, ich könnte ohne größere Schwierigkeiten aus der Sicht einer Heizung oder eines Affen schreiben.
Im Buch werden Hemingway, Fitzgerald und Stein mehrfach genannt. Auch Coelho hat seine Auftritte. Wie ist dein Verhältnis zu den im Buch genannten Autoren? Die Charaktere – vor allem die Krisen und die Vergangenheit Damians – werden ja nur angedeutet. Das erinnert an die Eisbergtheorie und nach amerikanischen Vorbildern. Spielte bei deiner Schreibweise Hemingway Pate?
Es sind Autoren, deren Werke ich mag, schillernde Figuren mit einem gewissen Unterhaltungswert. Hemingways Schreibweise sagt mir zu, weil auch ich mich gerne auf das Wesentliche konzentriere. Logik und Klarheit liegen mir sehr und ich kombiniere das gerne mit dem Schönen, Humorvollen und Unbeschreibbaren. Aber trotzdem gibt es bei mir nur eine Regel: Ich schreibe immer so, wie es sich in meinem Kopf anhört.
Du hast das Thema Videocalls verarbeitet, als hättest du die coronabedingte Tendenz zum Homeoffice vorausgeahnt. Wie gehst du als Autorin mit dem Lockdown um?
Da ich als Schriftstellerin viel Zeit zuhause verbringe, hat sich für mich kaum etwas geändert. Ich habe zwischendurch immer wieder vergessen, was los ist. Da mein Mann Arzt ist, konnte ich mich der Realität aber nicht ganz entziehen. Wir haben viel über Corona gesprochen, gelegentlich auch gelacht und in letzter Zeit häufiger geflucht. Obwohl die Ruhe meinem Schreiben guttut, freue ich mich sehr, wenn Normalität und vor allem auch Lesungen wieder möglich sind.
In der Mitte des Romans halten sich die Figuren im Kleinbasel und im Großbasel auf, dem Zentrum Basels auf beiden Seiten des Rheins. Und sie empfinden Bruderholz als Urlaub. Wie bist du an das Thema Basel herangegangen? Es ist deine Heimatstadt. Wie war es für dich beim Schreiben, sich dieser Stadt anzunähern?
Ich habe eine gewisse Distanz zur Stadt, da ich trotz meiner Basler Wurzeln in Deutschland aufgewachsen bin. Es ist dennoch eine Herausforderung, eine Umgebung, die einem selbst so selbstverständlich erscheint, zu beschreiben. Ich frage mich: Können sich die Leser*innen vorstellen, wie es am Bahnhof aussieht, oder setze ich beim Schreiben zu viel Wissen voraus?
Im Roman werden die Probleme geschildert, literarische Texte in einem Verlag zu veröffentlichen. Die Buchszene kommt nicht besonders gut weg. Warum ziehst du es vor, dein Buch als BoD zu veröffentlichen?
Für mich ist vor allem die Freiheit wichtig, gerade für meine ersten Bücher. Ich will möglichst unbeeinflusst schreiben und mich frei entwickeln. Ich höre immer wieder die Klagen von Verlagsautoren und denke mir jedes Mal, dass ich mir das selbst lieber aufhebe für irgendwann später.
Du schreibst Bücher, die man vor dem Einschlafen lesen kann, sagst du. Wie schreibt man Bücher, die einen in den Schlaf begleiten?
Indem man mit seinen Worten die Gedanken nicht terrorisiert und auf Gewalt, Hässlichkeit und Brutalität verzichtet.
… und was mir noch auf den Nägeln brennt: Im Roman fahren die 3 Kreativen mit der Tram durch Basel. Johannes erzählt von seiner Ex, mit der er Tür an Tür lebte. Auf einmal beteiligen sich wildfremde Personen am Gespräch der drei. Sind die Basler tatsächlich so offen?
Ich erlebe es so, dass die Menschen wesentlich kommunikativer sind, wenn Sommer ist oder irgendein internationales Event stattfindet wie die Art Basel. Dann redet man öfter mit Fremden, gerade weil man auch öfter angesprochen und z. B. nach dem Weg gefragt wird.
Darf man das? Heute noch so schreiben, wie es im 18. Jahrhundert schick gewesen wäre? Oder wie es einem Thomas Mann zur Ehre gereicht hätte? Wo liest man noch, dass jemandem bei Abschluss eines Mietvertrages „blümerant zumute“ (S. 29) war? Oder Sofa mit ph statt f?
Ein frisch verheiratetes Paar möchte nach Frankfurt ziehen. Während Ina mit ihrer Mutter, einer recht versnobten Dame namens Ida von Klein, die sich nur in besseren Kreisen wohl fühlt, in Italien weilt, begibt sich Hans allein auf die Ochsentour der Wohnungssuche. Es ist Hochsommer und Frankfurt leidet unter sengenden Temperaturen. Der Wohnungsmarkt ist schwierig.
Nach unzähligen Besichtigungen streckt Hans schließlich die Waffen und mietet als Notlösung eine heruntergekommene Dachwohnung im Frankfurter Bahnhofsviertel am Baseler Platz. Da gibt es eine ganz Menge schräger Gestalten. Ina soll es recht sein, sagt sie. Sie vertraue ihm vollkommen bei der Wahl der Wohnung.
Hans hingegen scheint sich recht schnell zu arrangieren. Nicht nur mit der Wohnung. Aus ganzer Seele verspürt er eine Neugier auf alles, was das Leben zu bieten hat. Alles hat Entdeckerwert. Da stören nicht mal Autoabgase: „Eine gleichsam wattige Substanzhaftigkeit gehört geradezu zur Stadtluft“, nimmt er wahr, als er die Straßen mit dem Fahrrad durchstreift (S. 9). Mit einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft im Hinterhof der neuen Wohnung, bedient vom Schnellimbiss eines Äthiopiers, und dem Ehepaar ein Stockwerk tiefer freundet er sich schnell an.
Vor allem Britta lässt ihn nicht los. Nun ja – wortwörtlich. Und zwar in jener Nacht, als Ina ihn aussperrt und Brittas freizügiger Mann, Dr. Elmar Wittekind, gleich daneben im selben Bett liegt. Nach dem begangenen Ehebruch weiß der auktoriale Erzähler zu berichten: „Hans fühlte den Wunsch, sich treiben zu lassen, womöglich gar von zuhause wegtreiben zu lassen“ (S. 159).
Anders als die neugierige Natur Hans ist Ina eher empfindlich, wird als zart beschrieben. Sie hat Kunstgeschichte studiert und kommt aus gutem Hause. Dem abnehmendem Mond gleich – Mosebach lässt seine Geschichte in der Zeit des Vollmondes bis zum Neumond spielen – tritt auch Ina eher in den Hintergrund der Geschichte. Doch gegen Ende meldet sie sich schlagkräftig zurück: nämlich mit einem überraschenden Schlag mit einer Flasche auf den Kopf ihres Mannes. Der Schlussstrich unter die gesamte Geschichte über den Einzug in eine Wohnung, unter der sie seelisch zu leiden begann. Kurz: Mit dem Mond nimmt auch ihr seelisches rapide Glück ab.
Bereits die erste Nacht in der Wohnung war ein völliges Desaster: Eine Taube hatte sich tagsüber eingenistet und sich dabei zu Tode geflattert. Daraufhin verbringen die beiden die Nacht im Hotel. Später braucht es dann nur noch ein Missgeschick von Hans – bei der Einladung zu einer Party verwechselt er die Tage und die beiden stehen festlich zurechtgemacht vor verschlossenen Türen – und der Haussegen hängt komplett schief.
Trotz ihres sozialen Rückzugs findet auch Ina Zutrauen in jemanden, und zwar in Urban Sieger, dem übergewichtigen Hausbesitzer. Sie schätzte seine Offenheit und „fühlte eine innere Saite schwingen, solange sie ihm zuhörte“ (S. 147).
Zur Komödie gerät dabei die Episode mit den vertauschten Eheringen: Beim Einzug des Paars ließ Urban Sieger seinen Ring in der Dachwohnung des Ehepaars, zu der einige Möbelstücke gehören, liegen. Schon vorher hatte Hans seinen Ehering bei Britta verloren und nimmt stattdessen den von Sieger zum Ersatz. Bevor Ina noch etwas merkt. Nun sucht Urban Sieger aber seinen Ring. In der Zwischenzeit wirft Britta Hans‘ Ring in den Briefkasten des Ehepaars. Ina findet ihn und glaubt, es sei Siegers Ring, und gibt ihn an den Hausbesitzer weiter. Die Ringe sind fortan vertauscht.
Ordnung und Unordnung des ehelichen Lebens werden hier wie in einem Kabinettstück durchgespielt und betten sich in die Gesamtkonstruktion, die mit Gegensätzen spielt, ein: die Antagonismen der Milieus von Bürgertum und sozialen Randgruppen, von Gegenwart und der Sprache einer vergangenen Epoche. Auch dass der Titel von Ina spricht, die Geschichte aber fast durchgehend aus der Perspektive Hans‘ geschildert wird, gehört hierher.
Am Ende ist es Ina, die die eheliche Ordnung wieder herstellt. In einem zeitlichen Sprung berichtet der Erzähler auf den letzten Seiten, die zwei hätten nun ein Haus in ruhiger Lage und zwei Kinder. „Es war eigentlich nicht so, daß der junge Mann an Kinder dachte. Er wollte mit Ina als Liebespaar leben“ (S. 11). So startete für Hans noch das Abenteuer Frankfurt. Doch der Ausbruchsversuch in ein Leben voller Möglichkeiten gab eben nur eine Geschichte für einen überheißen Sommer her. Am Ende lässt er sich wieder eingefangen, am Ende übernimmt seine Frau die Kontrolle.
So leicht dieses Sommerstück auch ist, mit dem Mosebach 2007 seine Reihe von Frankfurt-Romanen fortführte, so sehr scheint der Roman auf der philosophierenden Frage insistieren zu wollen: Was ist das eigentlich – wohnen? „Wer eine Wohnung sucht, hat es mit einem der seltenen Augenblicke zu tun, in denen der Mensch wirklich einmal glauben darf, über die Zukunft seines Lebens zu entscheiden, denn im Wohnen, so vieldeutig dies Wort eben ist, liegt doch das ganze Leben beschlossen“ (S. 5). So lautet der sperrige erste Satz des Romans.
Was ist das Eigene? Was ist das Fremde? Und wie kommt man klar in einem neuen Wohnviertel? Wie ein Seelenlicht scheint der abnehmende Mond die Bedürfnisse der heterogenen Figuren dieser Geschichte zu erhellen.
Oder müssen auch all diese Fragen ins Gegenteil verkehrt werden? Löst sich der ganze Metaphysikverdacht nicht in der ironischen Erzählhaltung auf, die – neben dem stilisierten Satzbau und den ausgedehnten Satzlängen – auf Distanz zu den Figuren geht?
Spannend sind solche Überlegungen zur Bauform eines Buches ja allemal. Doch der Weg, der im anstrengenden Roman „Der Mond und das Mädchen“ von Martin Mosebach zu diesen Fragen führt, ist recht beschwerlich geraten. Es fällt schwer, mit dieser Sprache warm zu werden. Es fällt schwer, darin eine Stilaussage zu sehen.
Robert Allmann aus Freiburg, ehemaliger Musiker, freischaffender Texter und zwischenzeitlich Mitbegründer einer Künstleragentur, gewinnt im Lotto. Er ist einer von zwei Glückspilzen und erhält 6 Millionen Euro. Was soll jetzt noch folgen – außer dem vollendeten Glück natürlich? Nun ja, neben einer schicken Limousine gibt es ein paar Schicksalsschläge und jede Menge Selbstzweifel.
Bei der Benachrichtigung durch die Lotteriebehörde über den Gewinn, erhält Allmann den Rat, niemandem etwas davon erzählen. Daran will er sich auch halten. Bei seiner Frau möchte er aber eine Ausnahme machen. Oder nicht? Nein, doch, das will er. Ihr möchte er die frohe Kunde auf jeden Fall überbringen.
Und in diesem Hin und Her liegt in dieser Geschichte über das Glück auch schon der Hund begraben. Doch der Reihe nach.
Es ist ja schon mal nett anzumerken, dass bei bei dem Schweigepakt und dem Nichtzählen dennoch der Literatur das ganze Glück anvertraut wird – eine gute Nachricht. Sprache und Erzählhaltung des Romans nehmen einen auch sofort ein. Es gibt viele schöne Wörter, die man so noch nicht gehört zu haben glaubt.
Immer wieder ganze Sätze, die unglaublich leicht und poetisch wirken: „Ich besuchte das Baptisterium, es war beeindruckend hoch und von einer Zartheit, als wäre der Bau gehäkelt“ (S. 177). Immer wieder reichen einzelne Sätze aus, um Personen treffend zu charakterisieren oder eine Situation zu beschreiben. Die Formulierungen glänzen mit einer wohltuenden Geschmeidigkeit.
Eine charmante Lässigkeit und gelassener Humor voller Selbstironie ziehen sich durch die Sätze. Das ist aber auch alles ein wenig solipsistisch. Darin erinnert Thommie Bayers „Die kurze Geschichte vom Glück“ an französischsprachige Autoren vom Schlage eines Philippe Djian oder noch mehr an Jean-Philippe Toussaint in dessen frühen Romanen.
Robert Allmann ist ebenfalls reichlich chauvinistisch. Mit den Gepflogenheiten in Sachen politischer Korrektheit hält er auch nicht gerade Schritt. Auch die Helden bei Toussaint schlitterten in Situationen, in denen sie auf sich selbst gestellt waren und die sie mit viel Witz oder Galgenhumor durchstehen mussten. Bei ihm verabschiedeten sich Ehefrauen recht schnell aus der Handlung. Das passiert auch Bayers Lottogewinner, als er ihr eigentlich mitteilen wollte, dass sie nun Millionärin ist.
Richtig schön soll es werden, wenn Allmann seiner Frau die Nachricht überbringt. Genau auf das Menü abgepasst will er ihr die Nachricht vom sorgenlosen Leben beim Abendessen servieren. Aber schon im ersten Akt geht alles schief. Noch bevor die Bombe platzt, gibt es dicke Luft zwischen den beiden und Regina, sein Frau, die er Wespe nennt, verlässt die Wohnung. Im Anschluss beginnt eine Geschichte, die zum Teil eine Roadstory ist und in der Allmann mit verschiedensten Überlegungen konfrontiert wird.
Diese Gedanken kreisen immer wieder um Ecki, einen ehemaligen Kompanion. Beide zusammen hatten eine Agentur ins Leben gerufen. Dabei wurde Allmann von Erik über den Tisch gezogen und Allmann verlor einiges an Geld. Kurioserweise waren es Eckis Zahlen, mit denen auch Robert Allmann Lotto spielte – deswegen weiß er auch sofort, wer der zweite Lottogewinner aus Baden-Württemberg ist.
Nachdem seine Frau das Weite gesucht hat, startet Allmann eine sanfte Konsumtour. Zu den amüsantesten Partien des Romans gehört die Passage, in der er über die Wahl der Automarke für sein neues Pkw nachdenkt. Dass der gebürtige Esslinger keinen Moment daran denkt, einen Mercedes zu wählen und sich für den ästhetischeren BMW entscheidet, regt mindestens zum Schmunzeln an.
Lokalpatriotismus hat er immerhin für Porsche übrig. „Es gibt auch Ästheten in Porsches, aber die prägen nicht das Bild“ (S. 21) – so haben die Luxussportwagen aus Zuffenhausen keine Chance. Dann vielleicht ein SUV? Das sei „neureich für Realschüler“ (S. 21) findet er, der ebenfalls kein Abitur hat. Seine Wahl fällt auf einen Cabrio von BMW. „Der Wagen fuhr sich phantastisch. Es war wie im Kino. Draußen sichtbar die echte Welt oder etwas, das ihr verblüffend ähnelte, und drinnen schwarzer, weicher Komfort“ (S. 48).
Der Bewusstseinsstrom an den aufwühlenden Tagen seit der Nachricht vom Lottogewinn wird strukturiert durch die Schilderung von Autofahrten. Da setzt man sich auch schon mal einfach so ins Auto. „Spazieren fahren. Zur Beruhigung“ (S. 57). Durch Südbaden steuert er seine „Maus“, wie er das Auto nennt. Bis nach Basel, durch das Elsass bis Colmar, zurück in Richtung Deutschland nach Karlsruhe und von da nach Freiburg oder nach Esslingen zu seinem Vater, vorbei an Böblingen oder über die Fildern.
Auch die Strecke Singen – Stuttgart steht auf dem Programm und wer diese schon einmal gefahren ist, weiß: Es gibt dort kein Tempolimit. So fließt die Geschichte dahin, flott und sanft, nur gelegentlich ausgebremst von Fahrern, die ein Auto, das 127 km/h fährt, mit 130 km/h überholen. Eine längere Erzählpartie führt ihn nach Oberitalien. Spätestens hier weiß man: Allmann fühlt sich richtig wohl in dieser Ecke. Hier ist er zuhause.
Zum Motiv des Autofahrens bzw. dem Gedankenfluss Allmann passt eine formale Eigenart des Buches: Nicht nur lässt Thommie Bayer seine Sätze extrem häufig mit einem „und“ beginnen. Dies passiert auch schon mal in zwei Sätzen hintereinander: „Und ich zündete mir ein Zigarette an. Und begriff mit Erstaunen, dass ich mich gleichzeitig in zwei völlig verschiedenen Zuständen befand“ (S. 144-145).
Nein, die Kapitel sind auch – statt konventionell durch Zahlen – durch das kaufmännische Und getrennt. Oder besser gesagt: verbunden. Es empfiehlt sich auf jeden Fall, diese Zeichen einmal mitzulesen. Das treibt den Bewusstseinsstrom ganz eigenartig voran. Im Erzähltext entsteht ein Sog, ein Glückssog quasi, den der Lottogewinner gerade zu erleben scheint.
Das führt aber nicht dazu, dass Allmann ein durchweg sympathischer Zeitgenosse ist. Er vergisst Dinge. Seine Fähigkeit, andere richtig einzuschätzen, ist nicht immer einwandfrei. Vor allem aber: Er ändert in Windeseile seine Meinung oder verschiebt Pläne in die Zukunft: „Ich hatte keine Ruhe für das Ganze, ich würde wieder herkommen, irgendwann auf meiner Reise durch die oberitalienischen Städte“ (S. 177). Als er beschließt Freiburg zu verlassen, stellt er am nächsten Tag doch wieder fest, dass Freiburg eigentlich ganz schön sei. „Wollte ich wirklich hier weg? Ich hatte das Münster erst einmal von innen gesehen, und auf den Turm war ich noch nie gestiegen“ (S. 184).
Impulshandlungen und eine schräge Logik – das ist die bedauerliche Konsequenz dieser selbstironischen Erzählanlage. Die Lässigkeit aus dem ersten Drittel verliert in dem Moment an Sympathie, in dem ein glaubhaftes Ende konstruiert werden soll. Die Geschmeidigkeit der Formulierungen ist im ersten Drittel ein Genuss. Im letzten Drittel gerät sie unter die Räder der ständigen Selbstrelativierungen.
Auch der dramaturgische Höhepunkt im mittleren Drittel – seine Frau brennt mit einem anderen durch und will die Scheidung, ohne vom Lottogewinn erfahren zu haben – überzeugt nicht wirklich. Es war an dieser Stelle bereits zu erwarten, dass sie nicht mehr in der Handlung auftaucht bzw. zu ihm zurückkehrt.
Schließlich sinken Allmanns Gedankengänge gar auf triviales Niveau: „Architektur … und Kunst sind offenbar etwas, das man erst später entdeckt, in der Kindheit geht es nur darum, sich stark zu fühlen“ (S. 198). Ebenso befremdlich steht man dem Erzähler gegenüber, als sein Vater stirbt. Dieser schlug ihn als Kind und entwickelte sich in den 1980ern zum Altnazi zurück. Doch Allmann fragt sich allen Ernstes am Tag der Beerdigung: „Musste ich mich schämen, dass ich nicht um meinen Vater trauerte?“ (S. 198). Bei einem Schläger wohl verzeihlich.
Der permanente Sinneswandel, die Unzuverlässigkeit der Entscheidungen führt natürlich das Ende des Romans ad absurdum. Den geplanten Umzug nach Berlin will man dem Buch als Conclusio dieser ganzen Rallye durch Glück nicht so recht abnehmen. Es klingt nur als das romantisch-kitschige Motiv vom Neuanfang an, das leider blutleer bleibt. Allmann wird sich in Berlin ja nicht ändern. Wovon soll es ein Neuanfang sein? So lieb und teuer, wie ihm das südliche Baden, das Elsass, der Radius rund um Freiburg und auch Italien sind, gibt es keinen Grund, an diesen Neuanfang zu glauben.
Eines fällt allerdings auf. Es scheint ihn ja zu geben, den Mythos Berlin unter Stuttgartern. Zwischen Esslingen und Ludwigsburg scheint es ausgemachte Sache zu sein, mindestens einmal in Berlin arbeiten und leben zu müssen. Manchen zog es dorthin, viele kehrten zurück. Ob Bayer diesen Mythos unter den Schwaben aufs Korn nimmt? Die Suche nach dem Glück in der Hauptstadt? Dieser Gedanke wäre ein versöhnliches Ende für diesen Roman.
In einem Kloster werden fünf Leichen gefunden. Auf ihren Gesichtern liegt der seltsame Ausdruck eines tiefen, seligen Glücks – das wirft Fragen auf und ruft eine ganze Reihe von Leuten mit unterschiedlichsten Interessen auf den Plan.
Bei den fünf Toten handelte es sich um einen Kreis rund um Robert Schönherr, Doktor der Philosophie und aufgrund seines Asperger Syndroms hochbegabt in den Fächern Logik und Mathematik. Am Münchener Institut für logische Grundlagenforschung war er mit dem Assistenten seines Doktorvaters, mit Frederic Brescher, bestens befreundet, ehe es zum Zeitpunkt ihrer Dissertationen ominöserweise zum Bruch kam.
Als Erster war Jens Deschwitz am Tatort in der Krypta des Klosters. Der Fotograf hat ein Faible für Porträts, er ist ein „Mystiker des Auges“ (S. 205) und begabt mit einem Blick für Gesichter. Als er sich daran macht, die Geschichte hinter dem Unglück zu recherchieren, lernt er die gescheiterte Medizinstudentin Julia Obersieder kennen. Als Praktikantin in der Gerichtsmedizin war sie bei der Untersuchung der Leichen ebenfalls am Tatort.
Beide finden heraus, dass Schönherr eine Widerlegung der Doktorarbeit von Brescher anfertigen wollte: Schönherr, dessen „Blick nichts Falsches übersehen konnte“ (S. 108) und der zu den „Höchstbegabten unter den Aspergerpatienten“ (S. 114) gehört, war diversen Fehlern in der Argumentation, war einer falschen Logik auf der Spur. „Sein Ordnungssinn warnte ihn schrill vor Breschers Logik der Macht: Da stimmte alles nicht. Ein Machwerk war es, dazu bestimmt, die Menschen zu verderben. Nur merkte es keiner, und alle jubelten ihm zu“ (S. 101).
Doch zunächst muss Schönherr fliehen, da ihn die Polizei als Verdächtigen im fünffachen Todesfall sucht. In einer einsamen Hütte in Italien findet er gegen Ende heraus (es ist eine von drei Szenen, die aus der Sicht Schönherrs erzählt wird), dass Breschers Doktorarbeit sogar ein Plagiat ist – die gedanklichen Fehler kommen noch hinzu. Verfasser war der (im Roman erfundene) schottische Aufklärungsphilosoph Edward Pimkie, der 1762 die Schrift Illogical logic or the temptations of Behemoth verfasste.
Immer wieder tauchen nun wie aus dem Nichts mysteriöse Gestalten auf, die den Verlauf der Geschichte rund um Robert Schönherr zu beeinflussen versuchen. Sie stammen von einer „Organisation“, die nicht näher bezeichnet wird und hinter der man die Pharmaindustrie vermuten muss. Sie glaubt an eine Glückssubstanz, Drogen, die die Opfer in jener Nacht zu sich genommen haben müssen – nur dies erkläre den seligen Ausdruck auf den Gesichtern. Jakob Leicht, ein Windhund vor dem Herrn und Chefredakteur der Wochenzeitung, die Deschwitz‘ Bilder von den Toten als Erstes veröffentlichte, lässt sich von dieser Organisation anheuern, um die Formel für die Glückssubstanz zu entschlüsseln. Der Chefredakteur verrennt sich dabei vollkommen. Es gab keine Glückssubstanz: Die Fünf sind gestorben, weil ein Ofenkamin verstopft war. Sie sind erstickt. Es war schlichtweg ein Unfall.
Auch Brescher steht wohl schon seit Längerem mit dieser Organisation in Kontakt – man baute offenbar auf seine Marketingqualitäten, Dinge mit philosophisch-logischer Kompetenz so verdrehen zu können, dass aus einer Lüge eine glaubhafte Geschichte wird. Eben diese Form des Schlusses wird in der Logik, das erklärt der Roman ausführlich, „Felapton“ genannt. Es deutet sich zudem an, dass Andreas Wollbold der Schulmedizin, die Krankheiten bekanntlich nur unterdrückt, eben diese Logik vorwirft und ihr als Lösung die ganzheitliche Homöopathie, frei von logischen Verdrehungen, Marketingtricks und Millionenbeträgen der Pharamindustrie, aufscheinen lässt. Hinzu kommen im Roman im Übrigen die modernen Zivilisationskrankheiten Asperger (Schönherr) und Demenz (Schönherrs Mutter).
Kurz nach seiner Promotion, als Schönherr Breschers falsches Spiel zu durchschauen beginnt, kehrt er sich dem Glauben zu. Er bittet die Kirche, ein Kloster nach mittelalterlichem Vorbild der Convertiti gründen zu dürfen, um im Sinne der spätmittelalterlichen devotio moderna abgekehrt von der Welt leben zu können. Mit der Figurenkonstellation Brescher – Schönherr splittet sich der Weg zwischen Kloster und Karriere: Während Brescher zum Star des Instituts aufsteigt und ihr Direktor wird, wird Schönherr, der talentierter war, auf einmal fromm und zieht sich zurück. In dieser Phase lernt er fünf Menschen kennen, die ebenso nicht für die Welt gemacht zu sein scheinen. Mit ihnen zusammen wollte er ein klösterliches Leben führen.
Schönherr ist ein Sokrates, er strebt nach Wahrheit. Aufgrund seiner Krankheit kann er gar nicht anders als immer die Wahrheit zu sehen und an ihr festzuhalten. Seine Reise zur Wahrheit führt den Roman schließlich zur spätmittelalterlichen Mystik – jenes sehr moderne Thema, das in der Gegenwartsliteratur immer wieder auftaucht (und in der Kirche zugunsten psycho-sozialer Tätigkeiten gerne vernachlässigt wird).
In dieser Konzeption dürfte auch der Grund liegen, warum dem Sehen im Roman „Felapton oder Das letzte Glück“ eine so große Rolle zukommt. Die Bilder der Toten und die Figur des Augenmenschen Deschwitz, der ewig lang für seine Bilder braucht, aber stets den richtigen Riecher beweist – das alles erinnert an Heinrich Seuses Wort, ‚durch die Bilder über die Bilder hinaus zu gelangen‘.
Weiter: Zu seinen eigenen Aufnahmen, über die Gesichter der Toten sinniert Deschwitz, dass die Fünf mit ihm zu sprechen begonnen hätten: Es „wollte jetzt ein innerer Mensch zum Vorschein kommen, während der äußere Mensch zu Ende gekommen ist.“ (S. 373). Der innere Mensch, der äußere Mensch – das erinnert schon stark an die Wortwahl der deutschen Mystiker. Neben Heinrich Seuse war das auch das Vokabular Meister Eckharts, seit Dekaden ein Fixstern der deutschen Literatur (s. Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, dessen Titel eine direkte Anspielung auf Eckharts Programm des nichtbewussten Erkennens, eines Denkens ohne Eigenschaften, d. h. außerhalb von Raum und Zeit, ist).
Daneben fällt noch Nikolaus von Kues als Referenz in Betracht. Der deutsche Philosoph des Spätmittelalters ging der Frage nach, wie sich (in direkter Gegenposition zu Eckhart) im Sichtbaren, also innerhalb der Kategorien von Raum und Zeit, das Unsichtbare zu erkennen geben könne. „Was man sieht, das sagt schon alles“, so beschreibt es denn auch ein Pastor namens Kerninger an einer Stelle (S. 270) und fasst damit das bildorientierte Programm, den Kern dieses Philosophischen Romans zusammen. In ähnlicher Weise begleitete die Cusanische Philosophie die lebhafte Bilderproduktion der Renaissance und der devotio moderna maßgeblich. Vor allem in den Niederlanden.
Genau dreimal wird die Geschichte des Romans aus der Perspektive Schönherrs erzählt. Es ist nicht nur der philosophisch-logische Dreischritt von These, Antithese und Synthese, der auf der Inhaltsebene des Romans rund um das Institut für logische Grundlagenforschung immer wieder durchexerziert wird und mit Robert Schönherr auch in der literarischen Form eine Entsprechung findet.
Es ist auch das Muster der Nachfolge Jesu, der in der mittelalterlichen Mystik eine hohe Bedeutung zukam. Am Ende geht Schönherr in ein Kartäuserkloster: „der vollkommene Schluss“, wie Deschwitz in Anspielung auf die Frage nach folgerichtigem Denken richtig kommentiert (S. 404): Schönherr entwickelt seinen Weg nach den Anfängen (1. Flucht) weiter (2. Hütte in Italien) und wird schließlich zum vollendeten Menschen (3. sinnreicher Sprung über eine begrenzende Mauer auf das jenseitige Grundstück eines Klosters).
Was es mit dem letzten Glück auf sich hat, bleibt grundsätzlich offen. Im Gespräch zwischen Deschwitz und Obersieder kommt die Frage auf, ob sich am Ende des Lebens eine Tür öffne, ob es ein Leben nach dem Tode gebe, oder ob diese Tür verschlossen sei. Das letzte Glück wäre, sagt der Fotograf, eine offene Tür, das ewige Leben. Dramaturgisch und auch leitmotivisch findet das Türsymbol seine Entsprechung auf den Bildern der Toten – bei der Rekonstrukion der Geschehnisse taucht immer wieder die Frage auf, ob die Tür zur Krypta offen oder geschlossen war.
Es sind die Bilder, die das Interesse aller an der Handlung beteiligten Personen wecken – sogar Nichtbeteiligte wie von der Organisation im Hintergrund. Doch die Bilder zu verstehen, das ist nur wenigen vergönnt. Schönherr gelingt am Ende der anspielungsreiche Sprung über die Bilder hinaus hin zu einer persönlichen Bedeutung. Deschwitz und Obersieder kämpfen für Schönherr und helfen ihm dabei. Die vermutete Pharmaindustrie hingegen sitzt mit ihrem Wunsch nach einer geldmachenden Glücksdroge genauso einer Ente auf wie der Chefredakteur Leicht oder Brescher, der Karrierist am Katheter.
Wäre „Felapton oder Das letzte Glück“ von Andreas Wollbold einfach nur ein Roman, ließe sich manches einwenden: Trotz des großen Figurenkarussells bleibt das Werk statisch, die Charaktere zu schematisch. Die Figurenrede wirkt in manchen Partien zu gewollt. Die Namen sind allzu sprechend. Manchen Behauptungen fehlt der Beleg. Figurenbeschreibungen sucht man oftmals vergebens. Die Art, in der Deschwitz und Obersieder im Laufe des Geschehens zum Paar werden, ist schlichtweg Heftromanen entlehnt. Dass aus Dialogen unversehens ellenlange Monologe werden (auch schon mal eine Philosophievorlesung oder eine Predigt), mag noch durchgehen – man nimmt sich eben Zeit für die Dinge. Betulich theologische Sätze, ein theologisches Raunen nervt dann schon eher: Sie hatte sich „neben jeden Einzelnen gekniet und … ja, für jeden etwas wie ein Gebet gesprochen. Irgendwelche Worte hatte sie dabei nicht gebraucht“ (S. 174). Es wird sogar als Kunststück in Kombinationsfragen gefeiert, in einer Klosterzelle das Versteck unter einer Matratze entlarvt zu haben. Doch wo sollte man sonst etwas in einer Klosterzelle verstecken?
Doch diese Dinge sind nicht das Entscheidende. Dass der Karl Alber Verlag mit einem Philosophischen Roman an das romantische Konzept anschließt und Philosophie mit Literatur innerhalb einer ganzen Buchreihe vereint, ist aller Ehren wert und kann gar nicht hoch genug eingeordnet werden.
Oder gibt es Wahrheit, Erkenntnis und Moral außerhalb von Geschichten? Andreas Wollbach hat darüber mit Unterhaltungswert berichtet.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die beiden Brüder Alexander und Jakob sowie deren österreichische Familie mit rechts-konservativem Einschlag. In einigen Partien taucht auch ihre Schwester Luisa wieder in heimischen Gefilden auf – das dritte Kind im Bunde, dem die Abnabelung von der Familie mit einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in Schweden bei Ehemann und Kind ebenso wenig gelingt wie später Jakob, dem jüngeren der beiden Brüder, der am Ende des Romans wieder bei seinen Eltern einzieht.
Thema des Romans ist somit das Erwachsenwerden und die Schwierigkeiten, außerhalb der gesicherten Grenzen der Familie auf eigenen Beinen zu stehen. In diesem Fall eine Familie, die in eine enge, miefige Welt gezeichnet wird, die unter einen mentalem Lockdown zu leiden scheint.
Schon bei Charaktereinführung fällt auf: Alexander und Jakob folgen nicht im Ansatz einer traditionellen, vorgezeichneten Bahn mit der Abfolge von „verliebt – verlobt – verheiratet“, wie es ihnen im Dreigenerationenhaus, in dem sie aufwuchsen, vorgelebt wird. Alexander ist vielmehr ein Frauenheld und achtet streng darauf, niemals von einer seiner Affären auch nur andeutungsweise auf eine Bindung festgenagelt zu werden. Bei Jakob deutet sich mit der Figur des Markus‘ über weite Strecken der Handlung ein homosexuelles Motiv an, bis Markus sich schließlich erhängt. Zum Zeitpunkt seines Selbstmordes war Jakob mit Nina verheiratet, die ihm eigentlich vollkommen zuwider ist. Nur eines gemeinsamen Kindes wegen willigte er in die Heirat ein – bis sich herausstellte, dass das Kind gar nicht von ihm ist. Er verlässt sie.
Alexander findet am Ende seine große Liebe und erweist sich auf einmal dann doch als bindungsfähig. Für Jakob, der beständig Reißaus nehmen möchte, aber nicht vorwärtskommt und schließlich wieder bei seinen Eltern einzieht, deutet sich am Ende derselbe Weg wie bei Alexander an: Er möchte zum Mililtär. Ob das aber das Richtige für ihn, den „zarten Jungen“ (S. 301), sein wird, beantwortet der Roman nicht mehr.
Das traute Heim, der Wunsch nach einem Zuhause und einer Ankunft im Leben wird in diesem Brüderroman metaphysisch überhöht und bildet lange Zeit einen unerreichbaren Fluchtpunkt – zumindest aus der Perspektive der Brüder. „Als wäre es zu Hause“ (S. 265), geht es Alexander einmal durch den Kopf, als er während einer Reise beim Sightseeing in einer Kirche Platz nimmt. Alexander, der schon früh die Familie verließ, war einst Stiftszögling und hatte eine Priesterlaufbahn erwogen, ehe es ihn zum Militär zog bzw. zu Beginn des Romans zu einem Auslandseinsatz.
Nicht nur mit dem religiösen Konnex deutet sich immer wieder Metaphysisches an. Auch angedeutete Naturschilderungen, die die Landschaft in einen zeitlosen Raum rücken bzw. das Vergehen von Zeit kaum mehr wahrnehmen lassen (wann fiel bereits Schnee oder noch nicht oder wann war er schon längst wieder geschmolzen?), verwischen Wirklichkeit. Darauf zahlen auch immer wiederkehrende Formulierungen wie „keine neuen Geschichten mehr“ (S. 177) ein, die einen immergleichen Ablauf des Lebens evozieren. Einen schönen Auftakt dazu gibt ein Birkenblatt am Anfang des Romans, das sogar bis auf die Färbung genauso aussieht, wie ein zuvor herbeigewehtes Birkenblatt – und wohl auch für die selbe Situation der Brüder einsteht.
Die Geschichte in „Fremde Seele, dunkler Wald“ spielt zu der Zeit, als die Russen die Krim besetzen – und ebenso, wie in der Ukraine die Grenzen verwischen, verläuft sich scheinbar auch das Leben der Söhne im Ungefähren, im Heimatlosen, und sie haben Schwierigkeiten, ihrem Leben Kontur zu verleihen. Die Möglichkeit, wieder zuhause einzuziehen und sich dadurch auf allzuleichte Weise seiner eigenen Grenzen zu versichern, erweist sich vor allem im Falle Jakobs als Trugschluss.
Fast der gesamte Erzähltext ist als ineinander verschränkte Parallelhandlung der beiden Brüder Alexander und Jakob angelegt – mit recht kurzen, rasch wechselnden Kapiteln. Das sorgt für die starke Sogwirkung der Geschichte, ist aber auch durchschaubar. Ebenso wie die Hintergrundgeschichte um das Erpresserpärchen Elvira und Erwin Hager und einen mysteriösen Mordfall im Nachbardorf bildet dieses Erzählmuster Strategien aus der Spannungsliteratur nach, die mehr und mehr zum Fundus oder sogar zum guten Ton in der deutschen Literatur zu gehören scheinen.
Diesem wohl zeitgemäßen Ansatz steht im Fall von „Fremde Seele, dunkler Wald“ ein Tonfall gegenüber, der immer wieder an einen klassische Erzähler denken lässt – der metaphysische Raum der Naturzeichnung kommt somit nicht nicht von ungefähr und findet auch tatsächlich im Erzählgestus seinen Niederschlag.
Während die unzähligen Fragesätze in der Figurenrede dem Gefühl der völligen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Hauptpersonen Ausdruck verleihen und lediglich mit einer auktorialen Erzählerstimme spielen, geben Sätze wie „Die Wochen vergingen in der gewohnten Weise“ (S. 102), „Die Reise begann sich schnell als abwechslungsreich und sogar sehr unterhaltsam herauszustellen“ (S. 132) oder einfach: „Drei Tage vergingen so“ (S. 144) den changierende Charakter auf und imitieren unverblümt klassisches Erzählverhalten. Die gelegentlichen umständlichen Satzkonstruktionen werden dabei nur allzu gern gewürzt durch das auratische und ekphratische Partizip Präsenz: „Er bückte sich und schaute unter den Tisch, bevor er sich wieder aufrichtete und die Zeitung an die Theke zurückbrachte, sich verabschiedete und ging, ein Bein etwas höher als das andere hebend.“ (S. 12.)
Am Ende ist es jedoch ein trotz allem frischer Erzählton mit viel Sogwirkung, der eine schnelle Lektüre ermöglicht. Denn es ist gerade die moderne Kontingenz der Lebensentwürfe, von der der Roman erzählt, und eben die hohe Dichte an schnell aufeinanderfolgenden Szenen, von denen gelegentlich aber fraglich bleibt, ob sie in jedem Einzelfall für die Handlung nötig gewesen wären. Ebenso scheinen manche Episoden schief geraten und die Figuren bleiben allzu schemenhaft. Darunter leidet der Erzähltext etwas, der allerdings – wie die Widmung des Autors schon sagt – eine lupenreine Geschichte ist.
Dies, das Nacherzählen eines Plots, was man sich klassischerweise in einer Familie an langen Abenden vorstellen kann, steht für den Roman denn auch im Vordergrund: Er ist nicht Avantgarde, er thematisiert nicht Sprache, ist nicht artifiziell und findet nicht in Stilübungen seinen Schlussstein. Sehr stark sind dabei die Auslassungen, mit denen Reinhard Kaiser-Mühlecker im gesamten Roman versiert arbeitet und ein Stückchen gelungener Erzählkunst vorführt.