In Stein gemeißelt. Heiner Müller: „Altes Gedicht“

 

Heiner Müller · „Altes Gedicht“

Nachts beim Schwimmen über den See der Augenblick

Der dich in Frage stellt Es gibt keinen andern mehr

Endlich die Wahrheit Daß du nur ein Zitat bist

Aus einem Buch das du nicht geschrieben hast

Dagegen kannst du lange anschreiben auf dein

Ausbleichendes Farbband Der Text schlägt durch

 

Der Dramatiker Heiner Müller setzt sich hin und schreibt ein Gedicht. Und nicht nur eines. Wie viele er sein Leben lang verfasste, davon zeugte schon vor Jahrzehnten seine Gesamtausgabe aus dem Suhrkamp Verlag.

Manche Gedichte gerieten Müller recht reflexiv, Kommentare des lyrischen Ich wurden zum Stilprinzip. Doch dieser Sechszeiler wirkt anders. Er vertraut auf Bildlichkeit und Metaphorik. Nicht nur darin erinnert das Gedicht an ein berühmtes Vorbild, nämlich an „Hälfte des Lebens“ von Friedrich Hölderlin.

Die Szene ist auf dem Wasser. Ein knappes Bild. Exzellent gewählt geht es in den Details ums Existenzielle. Und: „Altes Gedicht“ entwickelt auf besonders eindringliche Weise das Motiv weiter, dass wir im Leben immer eine Rolle spielen – genau das, was Müller von Berufs wegen durch seine Arbeit am Theater so vertraut war. Er nutzte es hier, um in sechs Versen eine so kurze wie entwaffnende Betrachtung der eigenen Existenz zu starten. Und ja – das ist ein „altes“ Thema, weil es uns alle betrifft. Von jeher.

In seinem Leben scheint dem lyrischen Ich einiges ins Schlingern geraten zu sein, ins Schwimmen. In der Eingangsszene „Nachts beim Schwimmen über den See“ geht es um Bewegungen unter der Oberfläche, spürbar am eigenen Leib. Und in dem Moment, in dem sich dieser nächtliche Raum ins Unbestimmte weitet, findet auf der Zeitachse die Zuspitzung statt: Es folgt der „Augenblick / Der dich in Frage stellt“.

 

Gedicht und Grabstein

Das Gedicht ist klar in zwei Hälften unterteilt. Beide Teile haben mit je 3 Versen den gleichen Umfang. Dabei stoßen zwei unterschiedliche Bilderwelten aufeinander. Es gibt den Wechsel von der Natur im ersten Teil („Schwimmen über den See“) zur Kultur im zweiten („Zitat […] / Aus einem Buch“): Da ist er, der Geist über dem Wasser. Aus dem Schwimmen wird das Schreiben.

Fiel die Wahl Müllers auf eine solche Dichotomie, weil er in der Sprache auch beides wichtig fand – die materielle und die inhaltliche Seite? Für diese Vermutung gibt es Anhaltspunkte. Müller liebte es in seiner Lyrik, Satzzeichen einfach wegzulassen. So entstehen atemlos aufeinanderprallende Sätze. Verse ohne Visier. Der Dichter kämpft mit seinen Dämonen. Da bleibt wenig Zeit für Interpunktion.

Im ersten Drittel (Verse 1 und 2) sowie im letzten Drittel (Verse 5 und 6) wird diese Technik augenfällig – und zwar mit dramatischen Effekten. Vor den beiden kurzen Hauptsätzen (die eine ernüchternde Erkenntnis formulieren): „Es gibt keinen andern mehr“ (Vers 3) und „Der Text schlägt durch“ (Vers 6) müsste jeweils ein Punkt stehen. Doch da ist etwas in Bewegung. Da verschwimmt etwas. Und das Mittelstück des Gedichtes? Hier stimmen Satzende und Versende miteinander überein. Der Punkt würde hinter „das du nicht geschrieben hast“ am Ende des Verses stehen. Überraschende Harmonie also, paradiesische Entspanntheit im Moment von Einfachheit und Klarheit: „Endlich die Wahrheit“. Die Ichaussprache gewinnt eine eigentümliche Ruhe. Das Ich begegnet sich selbst, gibt nicht mehr vor, etwas anderes zu sein, schlüpft nicht mehr in eine Rolle.

Zurück zum Verzicht auf Satzzeichen, dem ungebremsten Aufprall von Sätzen innerhalb eines Verses: Es ist ein harter Stil, der zweifellos an die Form des Hexameters erinnert, bei dem genau in der Versmitte betonte Silben in einem ‚harten‘ Klang aufeinandertreffen. Hölderlin war bekanntlich ein Meister darin, dieser Formfrage inhaltliche Tiefe mit auf den Weg zu geben.

Doch bei Müller ist etwas anderes entscheidend: Die für seine Gedichte typische Stilkunst weckt Assoziationen an eingemeißelte Inschriften in Grabmälern. Denn in diesen wurden gelegentlich ebenfalls keine Punkte gesetzt. Oder an Texte, die auf dem Sockel einer Statue in Stein gehauen wurden. Zu weit hergeholt?

Müllers poetische Finesse trifft in „Altes Gedicht“ auf Bilder rund um Fragen der Identität und die Übernahme von Rollen. „Der Text schlägt durch“, heißt es über das Schreiben auf ein „[a]usbleichendes Farbband“. Hier kommt alles auf die Ikonik an. Denn auch der Durchschlag einer Schreibmaschine – und er noch viel mehr als fehlende Satzzeichen – erinnert an Grabinschriften, an das Schreiben mit einem Meißel in das Material Stein. Auch beim maschinellen Tastenanschlag drücken sich die Buchstaben ins Blatt. Es wird mit Druck geschrieben, mit hartem Druck, einem Meißel vergleichbar. So ist bei beiden, bei Gedicht und Grabstein, der Text ins Material eingearbeitet.

 

Farbe und Form

Am Anfang des Gedichtes beherrschte – aufgrund der Abwesenheit von Licht – Schwärze die Szenerie. Am Ende tauchen Lichtmetaphorik und Farbsymbolik recht prosaisch im Farbband wieder auf. Entsteht noch verlässlicher Text, wenn dieses bereits ausbleicht? Eine zarte Poesie in Pastell womöglich? Keineswegs. Der Entzug der Farbe ist total. Mit ihr verschwindet der Anstrich, den wir uns so gerne geben. Vielmehr tritt das Ich, befreit von Rollen, hervor.

Das Gedicht berichtet vom Einfachwerden. Geschrieben mit einem Keil, der keine Waffe sein will. Die Verse sind entwaffnend, Authentizität gerät zum Anspruch, das Rollenspiel wird aufgegeben. Es ist die älteste, es ist eine existenzielle Situation, in der wir uns alle unversehens wiederfinden können. Jederzeit und immer schon.

Müller hat schöne Bilder für diesen Existenzkampf gefunden und schöpfte dabei zugleich aus seiner ihm eigenen Poetik. „Altes Gedicht“ stellt ein Kleinod in seinem lyrischen Werk dar.

Zitiert nach der Ausgabe: Heiner Müller · Gedichte. Alexander Verlag, Berlin 1992.

Singbar, unabdingbar. Sabine Bergk: „Wilde Magneten“ (2023)

Es gibt nichts Neues unter Sonne? Nun, für den Schatten gilt das nicht. Für die Sonne selbst jedenfalls ist er ein großer Unbekannter. Der große Feuerball hat noch nie einen Schatten zu Gesicht bekommen. Wo die Sonnenstrahlen hinfallen, ist kein Schatten. Wo Schatten ist, da sind keine Sonnenstrahlen. Sonne und Schatten kennen sich nicht.

Doch ums Sehen und Erkennen, ums Denken und Wahrnehmen, um unser Bewusstseinsleben – darum geht es in den Gedichten von Sabine Bergk nur vordergründig. „Wilde Magneten“ erlaubt eine viel einfachere Wahrnehmung, und zwar die des Seins. Sehen, dass die Sonne ist, dass der Schatten ist. Ein einfaches Rezept, mit dem wundervolle Texte wie dieser entstehen:

Schatten und Sonne

sind Liebende.

[…]

Jeder ist in sich Eins;

zusammen sind sie

ein Atem.

Nur noch um die Existenz geht es, ums Sein und nicht um die Erscheinung. In den drei Aussagesätzen taucht dreimal das Verb „sein“ auf und mit diesen wenigen Skizzen liegt auf der Hand, dass beide jeweils Eines sind, doch ohne einander nicht denkbar wären. Wie die Liebe. Sie ist das Thema des wundervollen Gedichtbandes „Wilde Magneten“. Gefunden hat Sabine Bergk hierfür eine berauschend leichte Sprache, die singbare Texte entstehen lässt. Leichtigkeit und meditative Tiefe treffen aufeinander.

Immer wieder beginnen die Gedichte bei einer Wahrnehmung, doch kann es sein, „dass meine Augen nicht nachkommen“, und zwar dem verwirrend-schönen Schein eines „Blütensturms“. Ein zuverlässiges Mittel der Reduktion auf dem Weg von der Wahrnehmung zum Sein sind bekanntlich Verneinungen der Erscheinungswelt. Sie finden sich in diesem Buch zuhauf. Originell: Eines der Gedichte taucht fast identisch zweimal auf. Einmal mit dem Titel „Alles“, einmal in der Negation „Ohne Alles“. Einmal versehen mit lauter willensstarken Formulierungen, die mit „um zu“ beginnen, in der Variation wird ein reduzierendes „ohne zu“ daraus. Die Aufgabe des Willens als Schritt zu tieferer Erkenntnis und wahrem Glück.

Ein anderes Wort für Reduktion ist Loslassen: „lass die Illusion, / lass sie los“, heißt es auf dem Weg „in eine tiefere Welt, / in der nichts falsch ist“. „Gib die Hoffnung auf“, liest man an anderer Stelle mit einiger Überraschung. Soll man sich etwa die Kugel geben, wenn es mal schlecht läuft? Natürlich nicht. Als Gegenbegriff zur Hoffnung wird die Wahrheit etabliert. Es geht darum, sich nicht an etwas zu hängen, was nicht mehr da ist oder gar nicht zu einem gehört. Loslassen lautet die Strategie: „Ich lasse los. / Da ist etwas, das in mir lächelt / und aufsteigt.“ Die beglückende Überformung des Ich durch etwas anderes. In solchen Selbstbefreiungen wird auch erst fester Grund unter den Füßen spürbar: „Du wirst getragen / immerdar“, weiß ein anderes Gedicht zu berichten, das ohne Satzzeichen auskommt. Als Belohnung fürs Loslassen winkt die Fülle, die sich im Ich auftut – ganz lapidar: „Hier ist Dein Hier. / Hier ist in Dir.“

Wenn Wahrnehmen und Denken nicht die Hauptrolle spielen, ist der Topos vom Nichtwissen unvermeidlich: „weiß nicht, was er sprach“ heißt es folgerichtig einmal. Ebenfalls werden, wie schon erwähnt, Sätze sehr häufig mit dem Verb „sein“ konstruiert: „Bin das ich? / Bist das du? / Sind wir uns […] nah“. „Du bist schon da“, stellt das lyrische Ich an einer Stelle fest – und präzisiert später: „Du bist der Stein / […] Du bist die Klarheit“. „Du bist Sonne“ heißt es auf einmal, befreit vom Artikel mit dem ganzen Absolutheitsanspruch, der damit verbunden ist. Sein ist wichtiger als Wissen und Nichtwissen ist der Weg zum Sein, da heben sich auch schon mal die Zeitebenen in paradoxen Formulierungen auf: „Du weißt es noch nicht / und weißt es schon lang“.

Die ganz bewusst verdrehte Logik von Negation, Reduktion und Loslassen zeigt sich auch in der Formulierung „Gipfel sind umgekehrte Täler.“ Überhaupt ist die Natur stark vertreten im Gedichtband „Wilde Magneten“. Vor allem Luft und Wasser zeichnen das Naturbild bei Sabine Bergk. Interessant: Dabei verläuft die Bewegung häufig von oben nach unten. Schwalben, Kohlweißlinge oder Falken sind in den Lüften zuhause – doch nicht nur sie: „Meine Seele ist / wie Schnee. // Sie fliegt“. Die Höhenmetaphorik ist in diesen Liebesgedichten unverkennbar und wird auf verschiedene Weisen durchgespielt. Mystische Logik des Reduzierens und Naturmetaphorik treffen aufeinander: „In die Stille tauchen wir jede Melodie, / tief in den Frieden.“ Die Rolle der Wassermetaphorik ist es, auf die Tiefe und den stillen Grund auf dem Boden des Gewässers zu verweisen.

Die Wiederholung von Bilderwelten und Formulierungen ist ein weiteres überzeugendes Stilprinzip in Sabine Bergks fulminantem Gedichtband. Dadurch entsteht eine meditative, kreisende Bewegung. Ein ewiges Kreisen um dasselbe statt Ablenkung durch Äußerlichkeiten. „So!“ lautet der Titel eines Gedichtes, in dem von platonischer Heimreise und einem Ursprungsort die Rede ist. Es tönt wie ein Auftakt zu mehr. Und spricht nicht auch bereits der Buchtitel von Bewegungen? Vom Hin und Her, das zwischen Magneten besteht? Kurzgeschlossenen wird darin ein metaphysisch-platonisches Bildpanorama von Ewigkeit und beständiger Rückkehr in den Ursprung mit der Erfahrung von Liebe im anderen Menschen. „Wir kreisen […] von Grenzwert zu Grenzwert“. Enden verlieren sich, Anfänge versinken in Anfänge, die noch weiter zurückliegen. Ein ganzes Universum verbindet sich damit. „Dreh Dich mit!“ lautet der letzte Vers des Bandes.

Die Höhenmetaphorik in „Wilde Magneten“ hat viel mit Leichtigkeit zu tun. Denn genauso kommen Sabine Bergks Gedichte daher. Das lyrische Ich singt. Belegen lässt sich das in der Wortwahl und die Tendenz zur Bildung von Neologismen. Herabstürzende Vögel „fingen sich in Liebe / umflügelt auf“. Das Wort „Nachmittagssommersonnenschein“ zeichnet den Flug eines Schmetterlings nach und flattert selbst wie ein Schmetterling durch den Vers. Überraschend schöne Wörter wie „Herzensgärten“ lassen die Texte glühen. Ähnlich gelagert ist „Du bist der Sonnenatem in meinem Gesicht“ – eine schöne Formulierung, die auf die Sonnenmetaphorik des Buches eingeht. Ganz klar: Neologismen gehören zu den Stärken von Sabine Bergk. In diesem Punkt gehört sie zu den Besten in der deutschen Literatur. Synästhetisch wird es, wenn „der Klang leuchtet“. „Letzte Fuge“ heißt eines der traurig-schönsten Gedichte dieses Bandes – ein Beispiel für die unglaublich feinnervige Sprache Sabine Bergks. Es erzählt davon, dass Hoffnungslosigkeit und Kälte entstehen, wenn Musik sich entzieht.

Mit dem Thema vom Gesang deutet sich auch sprachlich die Auflösung dessen an, was in der Schriftform eines gedruckten Buches nicht aufgelöst werden kann. „Flügelschlaghieroglyphen“ sind es, die das Ich bei Betrachtung eines Schmetterlings wahrnimmt und damit die Bildmetaphorik auf die Schriftsprache zurückbiegt. Generell: Mit dem Bezug zum Gesang heben die Worte in „Wilde Magneten“ ab in heitere Lüfte. Singen wird zum Spiel voller Leichtigkeit, das sich als Lösung für eventuelle Liebesklagen andeutet. Damit hat Sabine Bergk die geeignete Form für ihre Liebesgedichte in „Wilde Magneten“ gefunden.

Literarische Texte, die selbst etwas Musikalisches haben, erzeugen häufig den Eindruck von Beliebigkeit. Logisch, tritt doch die Semantik ein Stück weit in den Hintergrund. In der experimentellen Literatur ließ sich dies bei Ferdinand Kriwet beobachten, in der erzählenden Literatur bei Peter Weber. Ähnliches dürfte für dieses Buch gelten. Das Publikum wird eher klein bleiben. Doch wer Liebeslyrik mit einer zauberhaften Sprache, einer zeitgemäßen Lässigkeit und einer meditativen Tiefe – kurz: mit einer stimmigen Poetik sucht, wird sie bei Sabine Bergk finden.