Sein und nicht. Über ein Bild in der Kirche San Giuseppe, Lugano

Folgt man in Lugano der Via Cantonale von Norden nach Süden, öffnet sich dort, wo sie am Corso Pestalozzi auf einmal ihre Richtung ändert und komme was wolle nach Osten will, ein überraschender Blick auf die spätbarocke Fassade der Kirche San Giuseppe. Vergitterte Fenster an ihrem Nebengebäude, Zypressen, die dieses Haus mit der Straße verbinden – all dies nimmt man in den Augenwinkeln wahr, belässt es aber gerne dabei. Der Eintritt ins Gotteshaus vollzieht sich nun wie von selbst: Man folgt dem Kurvenverlauf der an dieser Stelle leicht abschüssigen Straße und fließt förmlich in die Kirche hinein.

Innen erwartet Besuchende ein Widerspruch. Es wird nicht der einzige bleiben. Der Raum im kühlen Weiß wirkt offen, leer und hoch wie eine Halle – und ist doch verblüffend klein. Mit wenigen Schritten wäre man jetzt am Altar. Aber etwas hält mich zurück. Mein Blick fällt auf ein Gemälde schräg links. Ein Heiligenbild, das eine Szene in einem Klostergang zeigt. Die Figur im Vordergrund, dahinter ein Fresko, zu den Seiten links eine Stufe und rechts ein Fenster.

Was mich an diesem Bild als Erstes überrascht, sind die Farben, die sich perfekt in den Kirchenraum von San Giuseppe einfügen. Das Weiß der Wände im Bild entspricht dem Weiß der Wände der Kirche. Das Braun des Habitus der Figur korrespondiert aufs Genaueste mit dem Interieur der Kirche. Was mich aber mehr fesselt, sind Stille und Widerspruch, die von diesem Bild ausgehen. Erinnerungen an die beiden Verkündigungen von Fra Angelico im Kloster San Marco, Florenz, werden wach.

Bei näherem Blick fällt mir das Fenster am rechten Bildrand auf. Es ist als schmaler Streifen wiedergegeben. Stand hierfür die niederländische Malerei des 15. Jahrhunderts Pate? Könnte sein. Das Thema jedenfalls scheint klar: Es geht um Sichtbarkeit, die sich entzieht. Um Sein, das ist und nicht ist. Das christliche Geheimnis. Mystik. Und da es sich beim Kruzifixus um ein Fresko auf der Wand im Bildraum handelt, ist Christus, der sichtbar gewordene Gott, als Bild im Bild wiedergegeben. Die Frage nach Sichtbarkeiten auch hier. Auch die durchsichtige Vase springt mir in die Augen: Bekanntlich ein Symbol für Maria. Sind das Lilien? Das wäre ebenfalls ein Mariensymbol.

Die einzige Figur des Bildes verharrt im Raum. Ihre Geste mit der erhobenen Monstranz verbleibt auf Höhe des senkrechten Kreuzbalkens. Als würde sich die Heilige nicht trauen, in die rechte Bildhälfte einzutreten. Als wäre das Kreuz und damit der Tod eine Grenze, auf die hier alles ankäme. Der Raum dort, am Ende des Ganges dicht vor dem Fenster und am Marienaltar – er bleibt merkwürdig leer. Aber ist das nicht das Entscheidende? Denn jetzt ist es diese eine Farbe, die das gesamte Geschehen bestimmt: Weiß, Grund für das Erscheinen aller Farben. Das Licht der Gotik, das Licht der Mystik.

Das schräg von rechts einfallende Licht innerhalb des Bildraums, die weißen Blumen darunter, die Hostie in der Bildmitte – aber auch das grüne Ehrentuch unter der Vase und das Grün des Kalvarienbergs auf dem Fresko: all dies bildet ein Dreieck. Einen Mikrokosmos, der leer bleibt und um den herum alles in Bewegung gerät. Nur der Witz ist: Es ist eine innere Bewegung. Das eigentliche Geschehen ist nicht sichtbar. Es ist ein Denkraum. Ein Raum der Andacht.

Deswegen ist die Öffnung, die das Bild zur rechten Seite leistet, auch so enorm. Kaum sichtbar – schon gar nicht auf den ersten Blick – herrscht an diesem Fenster das pure Leben. Wortwörtlich. Grün dürfte für das Leben stehen, das ewige Leben, den Sieg über den Tod. Ein mariologischer Raum wartet jenseits der Grenze, die der senkrechte Kreuzbalken mit der eingefrorenen Bewegung der Heiligen nur scheinbar bildet.

Nur zwei Bilder hängen hier an der Nordseite von San Giuseppe. Links neben dem Heiligenbild noch eine Franziskusdarstellung mit den vorgezeigten Wundmalen. Auf beide Bilder fällt das Licht von Süden her durch schmucklose Fenster. Das Andachtsbild ist nach rechts zum Altar mit der Heiligen Familie ausgerichtet und befindet sich unmittelbar vor der Altarschranke. Ein genialer Ort. Es ist so unscheinbar wie prominent platziert.