Lockdown, metaphysisch. Reinhard Kaiser-Mühlecker: „Fremde Seele, dunkler Wald“ (2016)

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die beiden Brüder Alexander und Jakob sowie deren österreichische Familie mit rechts-konservativem Einschlag. In einigen Partien taucht auch ihre Schwester Luisa wieder in heimischen Gefilden auf – das dritte Kind im Bunde, dem die Abnabelung von der Familie mit einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in Schweden bei Ehemann und Kind ebenso wenig gelingt wie später Jakob, dem jüngeren der beiden Brüder, der am Ende des Romans wieder bei seinen Eltern einzieht.

Thema des Romans ist somit das Erwachsenwerden und die Schwierigkeiten, außerhalb der gesicherten Grenzen der Familie auf eigenen Beinen zu stehen. In diesem Fall eine Familie, die in eine enge, miefige Welt gezeichnet wird, die unter einen mentalem Lockdown zu leiden scheint.

Schon bei Charaktereinführung fällt auf: Alexander und Jakob folgen nicht im Ansatz einer traditionellen, vorgezeichneten Bahn mit der Abfolge von „verliebt – verlobt – verheiratet“, wie es ihnen im Dreigenerationenhaus, in dem sie aufwuchsen, vorgelebt wird. Alexander ist vielmehr ein Frauenheld und achtet streng darauf, niemals von einer seiner Affären auch nur andeutungsweise auf eine Bindung festgenagelt zu werden. Bei Jakob deutet sich mit der Figur des Markus‘ über weite Strecken der Handlung ein homosexuelles Motiv an, bis Markus sich schließlich erhängt. Zum Zeitpunkt seines Selbstmordes war Jakob mit Nina verheiratet, die ihm eigentlich vollkommen zuwider ist. Nur eines gemeinsamen Kindes wegen willigte er in die Heirat ein – bis sich herausstellte, dass das Kind gar nicht von ihm ist. Er verlässt sie.

Alexander findet am Ende seine große Liebe und erweist sich auf einmal dann doch als bindungsfähig. Für Jakob, der beständig Reißaus nehmen möchte, aber nicht vorwärtskommt und schließlich wieder bei seinen Eltern einzieht, deutet sich am Ende derselbe Weg wie bei Alexander an: Er möchte zum Mililtär. Ob das aber das Richtige für ihn, den „zarten Jungen“ (S. 301), sein wird, beantwortet der Roman nicht mehr.

Das traute Heim, der Wunsch nach einem Zuhause und einer Ankunft im Leben wird in diesem Brüderroman metaphysisch überhöht und bildet lange Zeit einen unerreichbaren Fluchtpunkt – zumindest aus der Perspektive der Brüder. „Als wäre es zu Hause“ (S. 265), geht es Alexander einmal durch den Kopf, als er während einer Reise beim Sightseeing in einer Kirche Platz nimmt. Alexander, der schon früh die Familie verließ, war einst Stiftszögling und hatte eine Priesterlaufbahn erwogen, ehe es ihn zum Militär zog bzw. zu Beginn des Romans zu einem Auslandseinsatz.

Nicht nur mit dem religiösen Konnex deutet sich immer wieder Metaphysisches an. Auch angedeutete Naturschilderungen, die die Landschaft in einen zeitlosen Raum rücken bzw. das Vergehen von Zeit kaum mehr wahrnehmen lassen (wann fiel bereits Schnee oder noch nicht oder wann war er schon längst wieder geschmolzen?), verwischen Wirklichkeit. Darauf zahlen auch immer wiederkehrende Formulierungen wie „keine neuen Geschichten mehr“ (S. 177) ein, die einen immergleichen Ablauf des Lebens evozieren. Einen schönen Auftakt dazu gibt ein Birkenblatt am Anfang des Romans, das sogar bis auf die Färbung genauso aussieht, wie ein zuvor herbeigewehtes Birkenblatt – und wohl auch für die selbe Situation der Brüder einsteht.

Die Geschichte in „Fremde Seele, dunkler Wald“ spielt zu der Zeit, als die Russen die Krim besetzen – und ebenso, wie in der Ukraine die Grenzen verwischen, verläuft sich scheinbar auch das Leben der Söhne im Ungefähren, im Heimatlosen, und sie haben Schwierigkeiten, ihrem Leben Kontur zu verleihen. Die Möglichkeit, wieder zuhause einzuziehen und sich dadurch auf allzuleichte Weise seiner eigenen Grenzen zu versichern, erweist sich vor allem im Falle Jakobs als Trugschluss.

Fast der gesamte Erzähltext ist als ineinander verschränkte Parallelhandlung der beiden Brüder Alexander und Jakob angelegt – mit recht kurzen, rasch wechselnden Kapiteln. Das sorgt für die starke Sogwirkung der Geschichte, ist aber auch durchschaubar. Ebenso wie die Hintergrundgeschichte um das Erpresserpärchen Elvira und Erwin Hager und einen mysteriösen Mordfall im Nachbardorf bildet dieses Erzählmuster Strategien aus der Spannungsliteratur nach, die mehr und mehr zum Fundus oder sogar zum guten Ton in der deutschen Literatur zu gehören scheinen.

Diesem wohl zeitgemäßen Ansatz steht im Fall von „Fremde Seele, dunkler Wald“ ein Tonfall gegenüber, der immer wieder an einen klassische Erzähler denken lässt – der metaphysische Raum der Naturzeichnung kommt somit nicht nicht von ungefähr und findet auch tatsächlich im Erzählgestus seinen Niederschlag.

Während die unzähligen Fragesätze in der Figurenrede dem Gefühl der völligen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Hauptpersonen Ausdruck verleihen und lediglich mit einer auktorialen Erzählerstimme spielen, geben Sätze wie „Die Wochen vergingen in der gewohnten Weise“ (S. 102), „Die Reise begann sich schnell als abwechslungsreich und sogar sehr unterhaltsam herauszustellen“ (S. 132) oder einfach: „Drei Tage vergingen so“ (S. 144) den changierende Charakter auf und imitieren unverblümt klassisches Erzählverhalten. Die gelegentlichen umständlichen Satzkonstruktionen werden dabei nur allzu gern gewürzt durch das auratische und ekphratische Partizip Präsenz: „Er bückte sich und schaute unter den Tisch, bevor er sich wieder aufrichtete und die Zeitung an die Theke zurückbrachte, sich verabschiedete und ging, ein Bein etwas höher als das andere hebend.“ (S. 12.)

Reinhard Kaiser-Mühlecker

Am Ende ist es jedoch ein trotz allem frischer Erzählton mit viel Sogwirkung, der eine schnelle Lektüre ermöglicht. Denn es ist gerade die moderne Kontingenz der Lebensentwürfe, von der der Roman erzählt, und eben die hohe Dichte an schnell aufeinanderfolgenden Szenen, von denen gelegentlich aber fraglich bleibt, ob sie in jedem Einzelfall für die Handlung nötig gewesen wären. Ebenso scheinen manche Episoden schief geraten und die Figuren bleiben allzu schemenhaft. Darunter leidet der Erzähltext etwas, der allerdings – wie die Widmung des Autors schon sagt – eine lupenreine Geschichte ist.

Dies, das Nacherzählen eines Plots, was man sich klassischerweise in einer Familie an langen Abenden vorstellen kann, steht für den Roman denn auch im Vordergrund: Er ist nicht Avantgarde, er thematisiert nicht Sprache, ist nicht artifiziell und findet nicht in Stilübungen seinen Schlussstein. Sehr stark sind dabei die Auslassungen, mit denen Reinhard Kaiser-Mühlecker im gesamten Roman versiert arbeitet und ein Stückchen gelungener Erzählkunst vorführt.

Abtauchen ins Ich. Burkhard Spinnen: „Mehrkampf“ (2007)

Auf den ehemaligen Zehnkämpfer Farwick – bekannt in ganz Deutschland – ist geschossen worden. Doch niemand scheint ein Motiv zu haben. Spuren ergeben sich in erst, als Kommissar Grambach bei einem Kriegsspiel im Internet rund um U-Boote Farwick unter den Mitspielern entdeckt. Ohne sich zu erkennen zu geben, beginnt der Kommissar im übertragenen Sinne ein Spiel mit Farwick. Es überrascht nicht, dass der Leser bei den Tauchgängen der U-Boote symbolisch ins Ich der Figuren eindringt und zum Zuschauer eines Mehrkampfes im Inneren wird. Und zwar von Menschen, die mit Mitte vierzig das Alter für eine erste Lebensbilanz erreicht haben. Doch was Grambach sich dann bei seinem Fall zurechtstrickt, erweist sich genauso als Irrweg wie sein gesamtes Leben.

Stilvolle Aufmachung für einen souveränen Text

Kommissar Grambach war schon in jungen Jahren so begnadet wie kein Zweiter. Aus der vorgezeichneten kometenhaften Laufbahn wird allerdings nicht viel: Er wird Polizist – dabei hätte es problemlos zum Richter gereicht. „Jurist zu sein war wie jeder andere Beruf das Ende der Offenheit. Und nur auf dieses Offene war Grambach fixiert.“ Ein Lebensverweigerer? Nachdem er als Student das erste Mal mit einer Frau geschlafen hatte, fühlt er am nächsten Tag das, wonach er sich sein Leben lang sehnt: „In der Nacht schliefen sie miteinander. Am nächsten Morgen saßen sie lange auf Petras Bett. Für vielleicht eine Stunde fühlte sich Grambach damals, als müsste er nie wieder an etwas Bestimmtes denken.“ Offenheit und Unbestimmtes sind der Stoff, aus dem Grambach gemacht ist.

Das ist übrigens auch sein Antrieb bei seinen eigenen sportlichen Aktivitäten. Nur heißt das auch, dass er immer wieder Möglichkeiten an sich vorbeigehen lässt – und schließlich sein ganzes Leben. Entscheidungen, die klipp und klar sind, sind seine Sache nicht. Das wird dem Hochbegabten leider zum Verhängnis. In einer – arg holzschnittartigen – Szene gegen Ende des Buches kehrt ihm eine Frau den Rücken, die er gerade erst kennenlernte. Sie stellt ihn vor eine Wahl, bei der er sich nur für die naheliegende Variante hätte entscheiden müssen. Aber er sagt kein Wort und lässt sie gehen. Hätte er die Begabung, sich auch mal zu entscheiden und auf etwas festzulegen, das wird an dieser Stelle klar, wäre sein Leben viel glücklicher verlaufen.

Absprung nach draußen

Zum Filter der Geschichte wird die Sprache. Spinnen hält seine Prosa der klaren, kurzen Sätze konsequent durch. Das zu lesen ist stark. Vor allem kommt man allein dadurch gut durch die fast 400 Seiten. (Kritiker fanden das lang.) Gewöhnungsbedürftig bis zum Schluss bleibt allerdings der gelegentlich holprige Satzbau – genauso, wie auch die beiden Hauptpersonen bis zuletzt keine Sympathien gewinnen. Die Sprache entspricht den Charakteren: Der maskuline Sexprotz Farwick („ficken“ steckt ja fast schon im Namen) mag noch belustigen. Aber die Destruktivität, der leichte Wahn, die Extratouren von Grambach – diesem Mann voller Gram -, nein, hier entstehen keine Sympathien. Der Leser nimmt daran teil, wie Grambach einer falschen Spur folgt. Aber Mitleid entsteht nicht.

Und was das Abtauchen betrifft bzw. das Kriegsspiel: Hier konstruiert Spinnen eine schöne Entwicklung. Das höchste Level, erst von Grambach und Farwick symbiotisch gelöst, besteht darin, dass eben keine Schlacht mehr geführt werden muss. Vollkommen ruhig, bei ausgestellten Turbinen, allein von Ebbe und Flut bewegt, fährt das U-Boot durch die Themse bis in die City von London, wo die ganze Besatzung einfach aussteigt und sich unters Volk mischt. Hier taucht sie wieder auf, die (mittelalterliche, europäische) Mystik mit ihrem Streben nach Ruhe, ihrer Bilderlosigkeit und dem Ende aller Kämpfe. Themen, die ja in der Gegenwartsliteratur weiterleben. Immer wieder schön zu sehen.

Unterhaltung und Lesespaß vom Feinsten

Wie es sich für einen Krimi gehört, besteht das Buch aus kurzen Szenen. Und es gibt zwei Erzählstränge, die immer wieder zusammenlaufen. Gegen Ende auch sehr dramatisch. Das Buch bedient sich übrigens nicht nur des Krimi-Genres, auch das Liebesdrama steht Pate an der Stelle, als Missverständnisse die gesamte Handlung aus der Bahn zu werfen scheinen. Spinnen setzt das alles ziemlich versiert ein. Im Gegensatz zu den kritischen Einwände einiger Literaturjournalisten ist es für mich ein gutes Buch. Lesevergnügen? Ja.