Erde, wem Ehre gebührt. Kristina Schilke: „Alles was lebt“ (2025)

Was hat Priorität: Das Denken, das Sein – oder etwas ganz was anderes? Die Frage nach solch Petitessen und Kabinettstückchen könnte man für tiefgründig halten. Oder gar für Philosophie. Es ist natürlich viel einfacher. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Worum geht’s? Um gute Bücher. In guten Büchern geht es immer um mehr als unser Bewusstsein. Nichts anderes zeigt der außergewöhnliche Roman „Alles was lebt“ von Kristina Schilke.

Karla Weißhaupt ist Anfang 40 und erbt das Haus ihrer Eltern. Was wie der Beginn eines Kammerspiels klingt, ist der Auftakt zu einem figurenreichen Roman im bayerischen Dörfchen Schönsee.

Karla Weißhaupt ist zwar eine Art Hauptfigur in diesem starken Debüt von Kristina Schilke. Erzählt wird der stimmige und feine Roman aber keineswegs nur aus ihrer Sicht. Schilke hat sich für eine Multiperspektive entschieden, die eine schwebende Wirkung erzeugt und zum Erzählten passt. Die Erzählinstanz schwebt, Inhalt und Form entsprechen sich. Denn Schweben, das ist auch die zentrale Irritation, die Karla im ererbten Haus erlebt: Im ersten Stock befindet sich ein Zimmer, in dem die Schwerkraft nicht gilt. Wer den Raum betritt, fängt einfach an zu schweben.

Ziemlich befremdlich. Ob etwa ein „gottverlassener Dämon hier hauste?“, fragt sich Karla (S. 24). Um dem Phänomen auf die Spur zu kommen, sucht sie das Gespräch mit einem Kaplan. Der Kirchenmann mit Namen Kirmeyer soll Licht ins Dunkel bringen. Der Kaplan ist nach Karla die erste Figur aus Schönsee, die auftritt – die Erfahrung des Schwebens bildet vice versa den Auftakt, um einen Blick auf das Leben der Schönseer Bürger zu werfen. Kaplan Kirmeyer hat als Erster Vertreter aus Schönsee eine prominente Rolle in der Erzählwelt dieses Romans. Wie nutzt er sie? Wofür steht der gute Mann?

Der Kaplan tritt wesentlich materialistischer auf, als man es bei einem spirituellen Menschen vermuten möchte. Er scheint eher der Vertreter eines kapitalistischen Menschenschlages zu sein, da er beim Onlinebanking mehr ichverliebt als selig sein Vermögen betrachtet und sich dabei besinnungslos Süßigkeiten einverleibt. Das Geld, zu dem Kirchenmann Kirmeyer überraschend gekommen ist, möchte er nicht etwa spenden – wäre das bei einem Vertreter der Kirche zu viel erwartet? –, sondern für den eigenen Konsum nutzen. Was darfs denn sein, bitte? Nun, ein Flugzeug möchte sich der gute Mann kaufen. Manisch ist er diesem einen Gedanken verfallen. Nur dies beherrscht seine Gedankenwelt.

Während Schweben etwas ist, das den Wunsch nach dem zu vollenden scheint, „wofür der Mensch nicht geschaffen war: Fliegen“ (S. 41), verkümmert andererseits das Flugzeug, diese technisierte Version des Schwebens, in Schilkes Roman zum negativ konnotierten Gegenbegriff. Darin liegt die Bedeutung des geheimnisvollen Zimmers. Es ist das Schweben, nicht das Fliegen, das die Schwerkraft wirklich zu überwinden vermag und den Erzählreigen eröffnet. Also ist das Schweben das Echte und Einfache? Reales Sein statt Einbildung und Denken? Es sieht so aus. Zu dieser Interpretation liefert die Figur des Kaplans jedenfalls Anlass.

Noch für einen weiteren Gegensatz, nämlich den von Psyche und Physis, steht der Kaplan. Als es zum Gespräch mit Karla Weißhaupt kommt, stehen sich zwei Welten gegenüber. Karla hatte das Gespräch ursprünglich gesucht, weil sie dem Phänomen des Schwebens auf die Spur kommen wollte. Als sie das Gespräch in diese Richtung lenkt und den Kaplan fragt, ob er an Flüche glaube, kommen die beiden auf das Thema Exorzismus. Einer jungen Frau wurde in den 1970er Jahren von der Kirche vorgeworfen, besessen zu sein. Karla deutet eine mögliche Schuld der Kirche am Tod des Mädchens an. Ob es nicht etwas gegeben habe, fragt sie, das weder er noch jemand anderes erklären könne? Da beginnt der Kaplan vom psychischen Zustand der Frau zu reden: „Schizophren war das Mädel, das arme“ (S. 32), sagt er, verleibt sich die nächste Süßigkeit ein und nimmt wieder den „ruhigsten Seelsorgerblick“ (S. 33) an. Man hätte ihr nur was zu essen geben müssen, meint er, dann wäre sie noch am Leben.

Klingt gut. Trifft aber den Kern nicht. Für Karla ist mit dem Gespräch nichts geklärt, denn Hinweise zum Schweben hat sie immer noch nicht. „Sie verstand, dass Kaplan Kirmeyer ihr nicht helfen würde“ (S. 33).

Etwas Ähnliches ereignet sich ein paar Kapitel später. Als Lisa Seumer, Karlas Freundin aus Studientagen, das ominöse Zimmer betritt und ebenfalls zu schweben beginnt, versucht ihr Karla später einzureden, sie hätte sich das nur eingebildet. So landet die Freundin beim Therapeuten. Und als sie diesem davon erzählt, einigen sich beide schnell darauf, dass das Schweben nicht physisch war, nicht real passierte:

„‘Ich bin geschwebt‘, sagte Lisa und atmete aus. […] ‚Sie meinen, Frau Seumer, Sie dachten, dass Sie schwebten?‘ ‚Ja, natürlich. Tut mir leid. Ich dachte, ich würde schweben. Ich dachte es‘“ (S. 120-121). Aus dem realen Schweben wird ein gedachtes – was der guten Frau eine Krise und ein paar Medikamente beschert.

Wenn die Romanwelt mit dem Schweben eröffnet wird und Schweben innerhalb des Kosmos‘ des Romans real ist, hat die Physis dann nicht die Priorität gegenüber der Psyche? Die erzählende Literatur bietet zwar Einblicke in das Bewusstsein von menschlichen Figuren und vermittelt wie keine andere Empathie. Das ist nichts Neues. Aber Literatur ist erst dann gut, wenn sie mehr schafft. Wenn sie vom Leben erzählt und nicht von der Vorstellung davon. Literatur ist, wenn sie gut sein will, ein Training für die Realität und keine Flucht davor.

Genau deswegen ist „Alles was lebt“ ein starker Roman. Karla steht auf der Seite der Physis und erlebt etwas Reales in Raum und Zeit. Kaplan Kirmeyer hingegen steht „nur“ für die Psyche. Das bietet Anlass zu einem kleinen Seitenhieb: Die Kirche darf sich die Frage gefallen lassen, warum sie sich so sehr auf die Seelsorge konzentriert und ihren Kern: Sein, Physis und Mystik außer acht lässt. Wer sich dem Subjektivismus verschreibt, der Lust am Ich und der Kaufmannslogik von Geben und Nehmen, braucht sich über seinen sinkenden Stern nicht wundern. Gibt die Kirche ihren Kern auf, wird sie nicht mehr benötigt. Und in der Literatur? Hat da nicht immer das Sein die Priorität? Ob es nun das Unbewusste in der erzählenden Literatur ist oder die gegenständliche Welt in der experimentellen Literatur.

Körperlich wird es im Buch noch in anderer Hinsicht. Denn wie verletzlich der Mensch ist, weil er nicht zum Fliegen gemacht ist – gerade davon erzählt dieser wundervolle Roman. Beispielhaft dafür steht die Szene, in der Karla „überlegte, dass Menschen zwar Brücken bauten und Satelliten durch das All kreisen ließen, aber als Kinder weinten sie, […] rannten wie von Sinnen durch die Gegend und zerbrachen ständig irgendwelche Sachen“ (S. 60).

Dieser Gedankengang wird elegant fortgeführt durch leitmotivische Körperbeschreibungen. Die Fuß-Metaphorik, die den ganzen Roman durchzieht, steht für die körperliche Verfasstheit des Menschen und als Gegenbild zum Schweben meint sie Bodenhaftung, Bodenständigkeit oder einfach, dass wir sprichwörtlich auf die Erde gefallen sind.

Beispielhaft spiegelt eine Person aus Karlas Nachbarschaft, Marianne, mit ihrem kinderreichen Haushalt die Verletzlichkeit und Hinfälligkeit des Menschen. Bei ihr waren sie nicht selten zu sehen, „all die verletzten Erwachsenenfüße, die auf Matchboxautos und Legosteine getreten waren“ (S. 74). Eine weitere Nachbarin ist schwerer verletzt und „humpelte auf Krücken aus dem Haus. Ihr Knöchel war nicht mehr eingegipst, sondern bandagiert, wodurch er nicht mehr so einen Gegensatz bildete zu ihren nicht gerade formschönen Beinen“ (S. 67).

Mit zahlreichen Verletzungen wird das Leitmotiv auf den unterschiedlichsten Ebenen durchgespielt. So beginnt mit dem Körperteil auf Bodenniveau auch die Erfahrung des Schwebens: „Karla begann vorsichtig ihren besockten rechten Fuß über die Türschwelle zu strecken. Nach wenigen Zentimetern spürte sie den sanften, aber hartnäckigen Sog nach oben. Karla zog den Fuß zurück. Auf einmal aber sprang sie über die Schwelle hinein. Ihre Füße kamen nicht mehr dazu, den Boden zu berühren“ (S. 25). Penibel wird auch beschrieben, wie Karla nach dem Einzug ins Haus morgens aufsteht: „Karla scharrte mit ihren nackten Füßen auf den plattgetretenen Fasern des Teppichläufers. Irgendwann hielten die Füße still. Die Sohlen mit der leichten Neigung zum Plattfuß legten sich auf den Teppich. Kurze Zeit später stand Karla auf“ (S. 17).

Das Leitmotiv reicht vom Versuch, bei einer Fahrt mit dem Schiff Gleichgewicht zu finden – mit „seinen Füßen glich David das sachte Schwanken des Dampfers aus“ (S. 180) –, bis hin zu Modefragen: „In diesem Haus musste man sich die Schuhe nicht ausziehen. Es war sogar besser, sie anzulassen. Frau Rührlich in Korksandalen, Karla Weißhaupt in Römersandalen […] bewegten sich nicht von der Stelle“ (S. 80).

Der Weg von der Bodenhaftung zur Beerdigung ist nicht weit. So gibt es in diesem Down-to-Earth-Roman mehrere Todesfälle zu beklagen. Als die Figur Stephanie zum letzten Mal ihre im Sterben liegende Freundin besucht, stellt sie sich vor, „dass sie leise die Tür öffnete, nach unten ging, das Auto ihrer Eltern hier stehen ließ und einfach zu Fuß nach Hause lief“ (S. 205). Bei der folgenden Beerdigung trägt sie neue Schuhe: „Die schwarzen Ballerinas, die sie auf die Schnelle gekauft hatte, weil ihre Mutter darauf bestand, dass niemand auf Beerdigungen Sandalen trug, drückten sie blutig“ (S. 210).

Gegen Ende des Romans verletzt sich auch Karla ihren Knöchel. Da hatte es dann auch sie ereilt.

Allein schon das zentrale Leitmotiv des Buches zeigt: Dem Blick auf das Leben der sogenannten kleinen Leute entspricht in „Alles was lebt“ eine Sprache, die aufs Detail achtet. Und diese detailverliebte Sprache ist das vielleicht Schönste in diesem Roman. Wie nichts anderes zielt sie auf Tod und Verletzlichkeit des Menschen.

Beispielhaft für den Blick aufs Detail steht eine recht betagte Person aus Schönsee, Frau Rührlich. Seit sie dem Tod von der Schippe sprang, weiß sie die Kleinigkeiten zu schätzen: „So war es, das Leben, man achtete auf Kleinigkeiten, bis man verstand, dass sie das große Ganze ausmachten“ (S. 78). Diese Poetik des genauen Blicks legt Schilke einer 98-Jährigen in den Mund, die ein scherzhaftes Gespräch zwischen zwei Pflegern beobachtet und darin den Sinn des Lebens erblickt: Denn „dieser schäkernde Blödsinn, war ein Grund weiterzuleben. Wenigstens noch ein bisschen. Es hörte nämlich niemals auf. Das Kleinliche, Leichtsinnige, Gemeine, Verliebte, Drängende, Eitle an den Menschen. Und das war gar nicht so schlecht“ (S. 94).

Stark ist der Roman überall da, wo es in den Beschreibungen sinnlich wird. Wie schön lesen sich Sätze wie: „Dann behielt sie von der Limonade etwas im Mund, bis die Kohlensäurebläschen die Innenseiten ihrer Wangen betäubten“ (S. 64). Schilkes Schreibkunst hat manchmal etwas von einem Stillleben, wenn „zwei matt glasierte, nicht ganz runde Amerikaner“ (S. 23) beschrieben werden. Und als eine Figur die Nachricht vom Krebs im fortgeschrittenen Stadium erreicht, wird auch die Wahrnehmung kleinteilig: „Das Fernsehbild spiegelte sich auf dem Chromständer des Ventilators“ (S. 191). Der Sprung von der Schreckensnachricht zur Wiedergabe eines Details ist einfach nur großartig – genau so nimmt man wahr.

Leitmotivik, Sprachkunst – all dies zeigt: Mit dem Schweben hat Schilke nichts Hölderlinisches oder Überhöhtes im Sinn. Das Überwinden der Schwerkraft verdeutlicht vielmehr die Hinfälligkeit des Menschen, das Schweben macht die Bodenständigkeit und die Verbundenheit mit der Erde sichtbar.

Bei all dem Detailreichtum bleibt das Buch trotzdem fragmentarisch – und das ist ein weiterer Pluspunkt. Die Biografien der Einwohner Schönsees werden nur im Anschnitt bzw. andeutungsweise gezeigt. Genauso bleibt trotz des Realismus des genauen Blicks vieles zeichenhaft (was an die metaphysische Logik der altniederländischen Malerei erinnert). „Die Stelle auf dem Asphalt, wo die Katze gesessen hatte, wies einen kleinen länglichen Blutfleck auf. Die Beute […] war schon längst weg. Der Fleck war noch da“ (S. 36). Der Fleck als Zeichen der Abwesenheit.

Das Schweben – und überhaupt das Zimmer, in dem dieses seltsame Phänomen eines ‚wahren Fliegens‘ zu erleben ist – ist nach seiner Entdeckung auffallend unterrepräsentiert. Von Kapitel zu Kapitel zeigt sich, dass etwas anderes viel wichtiger ist. Und das sind die Beziehungen der Menschen untereinander. Auf den 280 Seiten des Romans ergeben sich immer wieder ganz unerwartete Verknüpfungen. Nicht das Schweben – das Netz, das die Menschen miteinander bilden, ist das eigentliche Thema des Romans.

Einen ersten Eindruck davon erhält man, als in der Luft ein Flugzeug über der Wohngegend auftaucht, die sich durch Tristesse auszeichnet. Hier, wo der tägliche Haushalt der größte Aufreger ist und auf der Straße kein Leben stattfindet, stürzt am Horizont ein Flugzeug ab. Der Vorfall vom Selbstmord des Piloten treibt die Nachbarn auf die Straße – sie kommen ins Gespräch miteinander.

Mit dem Sturz auf die Erde wird auch das Netz der Menschen untereinander sichtbar. Überhaupt: In vielen Kapiteln des Romans stirbt jemand. Zugleich treten häufig Kinder und damit der Nachwuchs auf. Man bekommt ein Gefühl für Entstehen und Vergehen. Ein erzählerischer Kunstgriff, der an alttestamentarische Bibelstellen erinnert. Biblische Ausmaße nimmt „Alles was lebt“ etwa in jenem Kapitel an, in dem das Enkelkind der Nachbarin einer Schwester, die bereits im Kindesalter gestorben war, zum Verwechseln ähnlichsieht.

Ähnliche Effekte stellen sich ein, wenn nicht aus Karlas aktuellem Bewusstsein heraus erzählt wird. In einem Kapitel wird sie als 11-Jährige versehentlich entführt. Das Auto ihres Vaters wurde geklaut – Karla lag auf der Rückbank – schon war sie Entführungsopfer. Das Kapitel namens „Night Life“ macht wie viele andere auch die Nachtseite und das Schattenleben der Menschen aus Schönsee wahrnehmbar. In einem anderen und sehr intensiven Kapitel erscheint Karla in der dritten Person – nach dem Romananfang ein befremdlicher Effekt, weil es wirkt, als würde jemand in seinem eigenen Leben auf die Bühne kommen und eine Episode mitspielen. In der Mitte des Romans lernt Karla David kennen, ein Lehrer an der Schule, in der sie früher selbst als Schülerin war – auch so ein geheimes Band, das Menschen verbindet.

Das Haus mit dem ominösen Zimmer hat Karla von ihren Eltern geerbt. Dass der Roman mit einem Erbe beginnt, ist sicher kein Zufall. Jedes Leben steht auf den Schultern der Vorfahren und ist in diesem Sinne ein Erbe. Zugleich hat Karla bereits in diesem Haus in ihrer Kindheit gelebt. Dieses überzeitliche Immer-schon prägt die gesamte Erzählanlage.

Wie gefährdet das Verflochtensein der Menschen untereinander ist, zeigt sich, als ins Haus von Frau Rührlichs Tochter Annette eingebrochen wird. Mit den privaten Gegenständen sind die Erinnerungsstücke weg und damit die Zeichen des Verbundenseins mit anderen Menschen. Auch hier zeigt sich, welch große Rolle Zeichenhaftigkeit im Roman spielt. Im gesamten Buch gibt es immer wieder Verweise auf Sprache. Ein Kapitel heißt „Wort des Tages“ und das entsprechende Wort lautet Parlatorium – der Raum in einem Kloster, in dem gesprochen werden darf, während sonst überall das Schweigegebot gilt. Auch das vorletzte Kapitel mit dem Titel „Hotelbibliothek“ verweist auf die Buchkultur, verrät besonders wenig und gibt sich im Gegenteil andeutungsreich. Im letzten Kapitel schließlich rückt Karla wieder in die dritte Perspektive und scheint kaum noch vorhanden – jedenfalls nicht mehr als verlässliche Erzählinstanz. Auch hier mehr Andeutung als Bericht.

Zeichenhaft auch der Romananfang. Da findet Karla im Haus der Eltern eine tote Maus. „Was die Qual der letzten Mäusestunden am meisten verriet, waren Schnauze, Ohren und Pfoten“ (S. 9). Verweise auf Vorhergehendes und ein abgelebtes Leben bilden den Auftakt zu diesem Buch. Kurz darauf kaufte Karla eine Lebendfalle. Und – Symbol, Symbol – das Haus selbst erweist sich für sie als Lebendfalle. Sogar den Raum, in dem die Schwerkraft nicht gilt, entdeckt sie mit der Lebendfalle in der Hand, weil sie dort eine gefangene Maus in die vermeintliche Freiheit entlässt. Schon da bemerkte Karla von sich selbst, „dass sie feststeckte“ (S. 19) in ihrem Leben.

Dass Karla das Haus auf den letzten Seiten des Romans in Feuer und Flamme aufgehen lässt, sodass mit der Asche nur noch ein Zeichen davon bleibt, ist dann schon kein Wunder mehr. Jedenfalls muss man vermuten, dass sie es war. Verraten wird es nicht. Doch wenn sie in vollendeter Innerlichkeitsmetaphorik wie ein Mönch dasteht und lächelt, darf man genau das vermuten. Das Kapitel deutet es auch an: „Karla verstand, dass sie gefangen war. Wie lange schon?“ (S. 255), womit der Bogen geschlagen wird zum Anfang des Romans: „Es kam ihr vor, als ob sie in ihren vierzig Lebensjahren sehr viel gewartet hatte“ (S. 17).

Wie mit der Asche des niedergebrannten Hauses nur noch ein Zeichen davon übrigbleibt, so ist auch das Schweben nur ein Zeichen, und zwar dafür, wie und wo wir unser Leben verbringen. Verletzlich auf der Erde – und anschließend darunter. Darin liegt der Realismus von Schilkes Buch. Von oben sieht man die Erde und die conditio humana. Dieser Blick öffnet mehr als materialistische Höhenflüge es könnten.

Andeuten und Verschweigen – dazwischen changiert Schilke ganz gut. Zwischen den Zeilen fängt der Roman an zu schillern und zu schweben. Dass die Bedeutung des Erzählten gerade gegen Ende in der Schwebe bleibt, bekommt dem Buch sehr gut. Inhalt und Form stimmen in solchen Momenten miteinander überein.

Wie sehr das Lektorat allerdings genau hingeschaut hat, muss an manchen Stellen offenbleiben. Ob Frau Rührlich „im neunten Lebensjahrzehnt“ war (S. 79), als sie mit 93 Jahren einen Kreislaufkollaps bekommt – oder nicht eher schon im zehnten – sei dahingestellt.

Es ist paradox: Schweben ist nur ein Konstrukt. Doch es lenkt den Blick auf unser Leben auf der Erde. Die Erde, und nicht das Denken, hat somit das letzte Wort. „Alles was lebt“ zeigt, was es bedeutet, dass wir bei der Geburt „auf die Welt kommen“. Dass bei Schilke ein Fluglehrer ausgerechnet Natalino heißt, ist dann auch keine Überraschung mehr in diesem so lehrreichen wie zauberhaften Roman.

Kehrwoche. Eva Christina Zeller: „Unterm Teppich” (2022)

Im schwäbischen Sprachgebrauch hat das Wort Teppich zwei recht unterschiedliche Bedeutungen. In der landläufigen Verwendung des Wortes ist damit zwar der Gegenstand gemeint, den man auf den Boden legt. Und was man unter den Teppich kehrt und verdrängt, davon handelt denn auch der Roman „Unterm Teppich“, das erste Romanwerk der für ihre Lyrik bekannten Autorin Eva Christina Zeller, die aus dem schwäbischen Tübingen stammt.

Doch nicht immer, wenn Schwäbinnen und Schwaben von einem Teppich reden, kommt man ihnen so leicht auf die Schliche. Denn sie verstehen darunter auch eine Decke – eine wärmende Decke, die man sich über den Körper zieht. Oder ganz einfach die Bettdecke. Klar, dass dieser Bedeutungsunterschied bei Neigschmeckten (Zugezogenen) wie mir, der ich rund vier Jahre in der Nähe von Tübingen leben durfte, für reichlich Verwirrung sorgen kann.

In Zellers Roman sorgt der schwäbische Doppelsinn des Wortes auf jeden Fall für eine wichtige Bedeutungskomponente. Denn diese regionale Nebenbedeutung des Wortes schwingt auf jeder Seite des Debütromans mit. Ist es doch ihr Liebesleben unter der Decke, das die Ich-Erzählerin auf den etwa 160 Seiten dieses schmalen Bandes aus ihrer verdrängten Sphäre unter dem Teppich hervorkehrt und in 61 Kapiteln zur Sprache kommen lässt.

Aufstieg aus dem Dunkeln ins Licht

Es handelt sich um 61 Kapitel, die als Bilder aus ihrer Vergangenheit auftauchen. Ganz offen, doch voller Scham – und das ist ein wichtiger Punkt – bekennt sich die Erzählerin zu diesen Episoden aus ihrem Leben. Die Bilder sind meist rätselhaft wie Märchen. („Es soll nicht vergeblich sein, das Wünschen“ (S. 83), heißt es einmal. Und bekanntermaßen hatte das Wünschen in Märchen noch geholfen.) Doch gelegentlich sind sie auch mit der Klarheit einer aufsteigenden Erkenntnis ausgestattet.

An einer solch luziden Stelle in Zellers Roman der Scham wird der Werkprozess dieses Buches beschrieben: „Ich habe meine Träume befragt, ob ich die Geschichten, die da unterm Teppich hervorgekehrt wurden, diese Hervorkehrungen, aufschreiben soll, denn immerhin seien sie doch nicht zufälligerweise unter den Teppich gekehrt worden. Sie scheuen das Licht und machen der Träumerin ein schlechtes Gewissen. Meine Träume antworteten verschlüsselt in Episoden, wie es anders nicht zu erwarten gewesen war“ (S. 161).

Diese kurzen Episoden arbeiten mit Assoziationstechniken und folgen der nicht immer verständlichen Traumlogik. Einzelne Motive werden zusammengeführt, ineinandergeschoben. „[S]ind nicht alle Ordnungen für die Erinnerung unsinnig und leer?“, fragt die Erzählstimme denn auch (S. 54) und beschreibt damit das Bauprinzip von „Unterm Teppich“.

Bei so viel Bilderlust fällt dann scheinbar auch schon mal die Schranke zwischen Wort und Gegenstand: Anstatt korrekterweise einen sprachlichen Vergleich mit dem Wörtchen „wie“ zu konstruieren, lässt es der Text einmal kurzerhand weg und springt direkt in sein sprachliches Bild. So befindet sich ein Kloster „auf schwankendem Terrain, auf dem Meer bei hoher Windstärke“ (S. 73) – nicht etwa „wie ein Schiff auf dem Meer“.

Zeller Roman
Haut hin. Ein starker Roman – verdichtet in seiner Sprache und seinen Bildern

Im Bilderroman „Unterm Teppich“ geht es um das Frauenbild und darum, was Männer Frauen antun. Es geht um frühe und spätere Erfahrungen mit Männern, mit übergriffigen Typen, um Misshandlungen durch den Vater, auch das. Es geht um weibliche Sexualität und inwiefern Dinge, die damit zusammenhängen, unter den Teppich gekehrt werden oder sich ein Freiheitsbegriff an ihr entzünden kann (eine differenzierte Einschätzung Simone de Beauvoirs inklusive). Beziehungen führen tendenziell zum Scheitern: Wird eine Detektivin damit beauftragt, die Treue des eigenen Ehemannes zu prüfen, verlieben sie Prüferin und Geprüfter prompt ineinander und werden ein Paar („Das Seminar“, Bild 32).

Waren es Erfahrungen wie diese, die aufseiten der Erzählerin zu einem trotzigen Lebensmotto führten? „Wer will schon siegen? Verlieren wollte sie“ (S. 90), heißt es da. Es geht in diesem Buch vor allem auch ums Reisen, um ein Hinauskommen in die Welt. Denn die „Ferne beruhigte sie, von der Welt konnte man nicht herunterfallen, sie war rund“ (S. 37). Das Gegenmodell hierzu – oder nur eine andere Form der Erfahrung von Ruhe? – ist die Arbeit der Ich-Erzählerin in einem Gefängnis, um auszuprobieren, „wie sich das anfühlen könnte, wenn man seinen Mann zu Recht umgebracht hat“ (S. 73).

Die Kapitel stehen meist zusammenhanglos nebeneinander. Auf einen vordergründigen Erzählzusammenhang, der die Episoden fugenlos miteinander verbinden würde, wartet man in vielen Fällen vergebens. Es ist ein Bau mit Brüchen. Nur: Gerade dadurch atmen die einzelnen Bilder die Aura des Ungesagten. Es ist die Kraft von Bildern, die aus dem Unbewussten aufsteigen. Spürbar wird, was unter den Teppich gekehrt und nun wieder hervorgekehrt wurde.

Im Kontrast dazu steht ein häufig eingefügtes, exaktes Datum, an dem sich die jeweilige Episode zugetragen hat. Das stiftet die durchgehende Chronologie eines Erzählens, das im Unbewussten kramen und aufschlussreiche Szenen aus der Vergangenheit hervorholen möchte.

Doch unter all diesen Traumgeschichten gibt es zwei Abschnitte, die sich in ihrer Machart deutlich von den anderen Bildern unterscheiden. Es sind die Kapitel 54 „Abwege“ und 55 „Planken“, die beide in Tübingen spielen. Gerade das letzte ist mit über 20 Seiten nicht nur viel länger als alle anderen, die sich zum Teil auf nur eine Seite verdichten. Es ist auch ein Kapitel, das mit einem bekenntnishaften Monolog der Ich-Erzählerin einen Prosatext im engeren Sinne enthält.

Das Bewundernswerte dieser Passage besteht in ihrem völlig entwaffnenden Erzählton. An einer Stelle, an der von Ungewissheiten die Rede ist und dass man von Mal zu Mal weiterschauen müsse, von Planke zu Planke springe, heißt es so prosaisch wie lapidar: „Wir tun doch nichts anderes im Leben“ (S. 130). So relaxt geben sich die übrigen Bilder selten. In diesem Monolog, der eine aufgewühlte Ich-Erzählerin zeigt, ruhen paradoxerweise alle Kämpfe. Gelegentlich streifen die Sätze das Kalenderspruchartige. Doch sind sie immer noch schön, immer noch ästhetisch. Selbst die genretypischen Wiederholungen eines Monologes stören nicht.

Sind die kurzen lyrischen Kapitel noch sehr verdichtet in ihrem bildgewaltigen Inhalt und vor allem – was nicht genug gelobt werden kann – in ihrer wortspielerischen Sprache, so hat Zeller gegen Ende des Buches eine Beichte der Ich-Erzählerin platziert, die zum Kernstück ihres Romans über die Scham avanciert und fraglos das beste Kapitel bildet.

Wer schon einmal in dieser Stadt zu Besuch war, weiß: Tübingen ist eine Märchenstadt. Tübingen ist eine Zauberstadt. Und in diesen Kapiteln kommt dann auch das welthaltige Reisemotiv der vorangehenden Bilder komplett zum Erliegen. „Man fährt hier nicht durch, man kommt hier an“ (S. 122). So strahlt das Kapitel 54, in dem Tübingen bei einem Spaziergang beschrieben wird und das den Monolog aus Kapitel 55 vorbereitet , unglaublich viel Ruhe aus im Vergleich zu den vielen Bewegtbildern des Buches, bei denen der Autofokus noch dabei ist, die Schärfe einzustellen, die Intention der Geschichten im Ungefähren bleibt.

Doch worum geht es? In Kapitel 55 wird ein wichtiger Akzent der Scham der Ich-Erzählerin offengelegt. „Planken“ erzählt davon, wie ihr Partner Ulrich im Krankenhaus starb. Und es erzählt davon, dass die Erzählerin in der Stunde seines Todes nicht im Krankenhaus am Bett ihres Freundes saß. Ausgerechnet in diesem Moment hatte sie sich mit ihrer Affäre Rob getroffen. „Ich weiß nicht, ob ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ich nehme es fast an“ (S. 140). Aber: Es war nicht einfachhin ihre Schuld. Es waren auch die Umstände, die ungünstig waren, so dass sie im Moment des Abschiedes nicht bei ihm war.

Sie war nicht bei ihm, als er unter der Decke seines Krankenhausbettes verstarb: Auch hier entschlüsselt sich die zweite Bedeutung von Teppich im Sinne von Decke. Die Decke steht hier offensichtlich nicht nur für Eros allein, sondern auch für Thanatos. So gewinnt das nur indirekt (oder: im Verborgenen) genannte Motiv der Decke die Bedeutung von Leben und Tod.

Im Monolog spielt die Erzählstimme verschiedene Szenarien durch. Woran es lag und warum es kommen musste, wie es kam. Bei der Lektüre liegt es einem auf der Zunge zu psychologisieren: Lag es vielleicht auch an den Erfahrungen im Laufe ihres Lebens, die sich in jenen Bildern des Romans Bahn brechen? „Die Kehrseite könnte das Wichtigste sein?“ (S. 146), fragt sie selbst angesichts ihres Erschreckens darüber, in der Sterbenacht bei einem anderen Mann gewesen zu sein. Die Kehrseite oder anders gesagt: das Ungesagte der aufsteigenden Bilder, dieser Hervorkehrungen.

Die Beichte als Form des literarischen Erzählens in der deutschen Literatur – das wäre vermutlich die ein oder andere eine Doktorarbeit wert. Bereits in einem Bild zu Anfang des Buches sagt die Erzählerin: „Das Tagebuch ist eine offene Form, es gibt keinen Schutz, nur den der Offenheit. Bekenne, und du wirst gerettet werden“ (S. 35). Die Lektüre des eigenen Tagebuchs, dieses Mediums des Verborgenen, durch Psychologen, verdrehte sich bereits im Kapitel über ihre Jugendzeit ins Gegenteil: Die Verfasserin des Tagebuchs wird von den sie betreuenden Therapeuten fortan in Ruhe gelassen. Verborgenes führt in die Freiheit.

Die Erzählerin bei Zeller war am Zug. Sie hatte das, was man im Schwabenland noch heute kennt: Kehrwoche. Sie nahm den Besen in die Hand und fegte vor ihrer Tür. Sie hat weggekehrt, sie hat hervorgekehrt. Was bei dieser Tübinger Dialektik so alles zum Vorschein kommt, dafür schämt sie sich. Und was sich unter ihrer Scham verstehen lässt, das läuft zusammen in der Doppelbedeutung von Teppich im Allgemeinen und Decke im Besonderen, wobei Decke wiederum auf Eros und Thanatos anspielt. Nur welche Bedeutung das alles für die Erzählerin in ihrer eigenen Beichte gewinnt – hier bleibt ein Rest an Unschärfe.

Für „Unterm Teppich“ liegt jedenfalls auf der Hand: Es ist ein außergewöhnlich kunstsinniges Buch geworden.

Ernte gut, alles gut. Theresa Hannig: „Pantopia“ (2022)

Das Cover des Romans „Pantopia” von Theresa Hannig ist schwarz-grün gestaltet. Ob der Verlag für den Herbst 2021 auf eine schwarz-grüne Bundesregierung spekuliert hatte?

Das politische Farbenspiel, das man der Covergestaltung entnehmen könnte, gibt jedenfalls die Richtung dieses Buches vor. Umweltschutz erreichen, aber bitte mit den Mitteln des „perfekten Kapitalismus“, wie es im Buch heißt. Und es ist ja der konservative Kern der grünen Partei in Deutschland, das aktuell herrschende Wirtschaftssystem zu bewahren und als Instrument für die eigenen Ziele zu nutzen. Schwarz-grün ist eben auch die Welt in diesem Zukunftsroman, der sich dank seiner zentralen Idee zur Utopie steigert.

Die Mittzwanzigerin und Multimilliardärin Patricia Jung – neben dem gleichalten und ebenfalls steinreichen Henry Shevek Hauptperson des Romans – stand folgerichtig der Bewegung Fridays for Future nahe. Es ist ein Stück weit diese junge Generation, der „Pantopia“ eine Stimme verleiht. Und etwas erstaunt liest es sich schon, dass diese Generation so absolut auf Affirmation statt Kritik setzt und den Planeten mit den Instrumenten des bestehenden Systems retten möchte. Ob es damit zu tun hat, dass sie – aufgewachsen mit dem Smartphone in der Hand und dem Selbstverständnis, mehrmals im Jahr in entfernte Länder zu reisen – wie kaum eine zuvor von der Zerstörung des Planeten profitiert hat? Geht es bei der Vermeidung von kritischen Entwürfen zur Frage, wie wir anders und umweltschonender leben wollen, um Besitzstandswahrung? Das System erhalten, um den Verlust des hohen Lebensniveaus nicht zu riskieren? Andererseits: Kritisch war die Generation der 68er bis zum Anschlag. Gebracht hat es nichts. Zuhören darf man der jungen Generation und ihrem Entwurf in jedem Fall.

Also: Braucht es lediglich genug Kapital und alles wird gut? „Die Redewendung ‚Geld regiert die Welt‘ ist wahrer, als den meisten Menschen bewusst ist“ (S. 332). So sinniert denn auch an einer Stelle des Buches Einbug. Einbug? Das ist die Künstliche Intelligenz, die im Roman von den beiden Programmierern Patricia und Henry entwickelt wird (wodurch die beiden zu Multimilliardären wurden) und die aufgrund eines Bugs zu einer sogenannten starken KI erwächst: Sie hat Selbstbewusstsein, kann selbstständig denken. Diese revolutionäre Erfindung steht im Zentrum von „Pantopia“. Und diese Software arbeitet mit ihrem unglaublich großen Datenvolumen an der Instrumentalisierung des Kapitals zu Zwecken des Umweltschutzes.

Auch bei dieser Konzeption bzw. allein schon beim Namen der KI mit ihrem Wortbestandteil „Ein-“ wird die schwarz-konservative Ausrichtung des Buches deutlich. Die klassische Philosophie samt Platon und Plotin bis hinein in die Moderne lässt grüßen. Denn diese hielt es ja ganz gerne mit dem Einen als Prinzip (auch wenn es wie bei Hölderlin und anderen das „Eine in sich unterschiedene“, also doch wieder zweigeteilt war). Die großen Religionen dieser Welt nicht zu vergessen, die bekanntlich Monotheismen sind.

Es ist diese Liebe zum Subjekt, zum Einen und Einzigen, an der die Generation von Fridays for Future festhält. So muss man bei der Lektüre von „Pantopia“ schlussfolgern. Das muss man auch den Worten eines jungen Mitstreiters von Pantopia namens Tom entnehmen. In einem Streitgespräch mit seinem Vater zur Frage nach der Rettung des Planeten, was die Elterngeneration bisher dafür getan habe und die junge Generation nun zu tun gedenke, ruft er – in die Ecke – gedrängt schließlich aus: „Das ist meine Zukunft! Mein Leben!“ (S. 405) Bei so viel Ichbezogenheit ist man eben doch ein bisschen baff. Den Planeten retten, um selbst ein angenehmes Leben zu führen? Warum wird das Umweltthema so sehr auf das Ich heruntergebrochen? Erneut: Geht es um den Planeten (Objekt) oder das eigene Leben (Subjekt)? Und sind Ichliebe und der Wunsch nach höchstem Komfort, die der Kapitalismus bedient, nicht die Ursachen der Zerstörung von Klima und Umwelt? Kann die Ursache des Problems die Lösung sein?

In Theresa Hannigs Roman jedenfalls geht es um den perfekten Kapitalismus, der in Pantopia Unternehmen und Produkte via Preisgestaltung unterstützt – oder bestraft. Je nachdem, ob die Produkte umweltschonend und fair hergestellt wurden und aus der näheren Region kommen oder nicht. So herrscht in Pantopia die reine Vernunft. Allerdings nur, weil es Zwänge gibt. „Was gut ist, wird verstärkt. Was falsch ist, wird bestraft“ (S. 178). Das klingt nicht ganz so heimelig. Allerdings gibt es einen reichen Segen für alle, die bei Pantopia mitmachen: Es lockt ein bedingungsloses Grundeinkommen von rund 3000 Euro monatlich. Hannig lässt auch den berühmtesten Anhänger der reinen Vernunft zu Wort kommen: Immanuel Kant. Die Stelle erinnert übrigens etwas an die entsprechende Passage des Romans „Sophies Welt“ von Jostein Garder. In ähnlichem Ton schließt Hannig Kant mit dem Entstehen der UNO kurz. So schließt sich der Kreis. Die vernunftbegabte KI Einbug leitet und lenkt Preise und Geldströme auf dem Weltmarkt, die vernunftbegabten Mitglieder der Weltrepublik Pantopia führen ein zufriedenes Leben.

Vernünftig ist auch das Ziel, andere Menschen nicht als Mittel zum Zweck zu gebrauchen. Auch hier darf der Name Kant fallen. Es war immerhin die Basis seiner Moralphilosophie. Nur: Um Informationen über die Menschen zu erhalten, liest Einbug alle möglichen Bücher, die über Jahrhunderte hinweg publiziert wurden. Schön und gut. Aber er studiert eben auch mit gleicher Priorität Posts auf Social Media. Weil die Vernetzung der Menschen eine zentrale Rolle in diesem Buch einnimmt, spielt auch das Followersystem der sozialen Medien eine wichtige Rolle: Posts und Poesie werden im Roman „Pantopia“ gleichgestellt. Nur ist das so? Schaut man sich die sozialen Medien an, könnte man auf den Gedanken kommen, dass sich gerade hier Menschen gegenseitig als Mittel zum Zweck benutzen. Entweder, um beruflich voranzukommen (Xing, LinkedIn), oder um den privaten Account zu pushen oder für einen anderen Zweck zu nutzen (Instagram, Facebook, TikTok). Aber klar – so negativ oder gar unmoralisch muss man diese Medien nicht sehen und nutzen.

Hannig hat mit ihrem Buch „Pantopia“ ein modernes Märchen verfasst. Dafür nutzt sie versiert die gängigen Strategien der Spannungsbildung. Dass nach der ersten Hälfte des Romans auf einmal ganz andere Figuren auftauchen, die das Geschehen von einer komplett anderen Seite beleuchten und der Geschichte neuen Drive geben, und ihre Handlungen mit dem ersten Erzählstrang von Patricia und Henry verwoben werden, ist ein solches Mittel. Dass es sich dabei um eine Kommissarin und eine Journalistin handelt – zwei Aufklärertypen, Figuren, die etwas aufdecken und rausfinden können –, ist übrigens recht stark dem Schema des Heftromans entliehen. Und auch, dass diese beiden Figuren übertrieben böswillig angelegt sind. Gerade durch diese übertriebene Zeichnung vermeidet es die Autorin, ihren Figuren eine charakterliche Tiefe mit auf den Weg zu geben. Bei einem realistischen Erzählansatz müssten nun alle Alarmglocken schrillen. In einem Märchen, in dem auch mit Unwahrscheinlichkeiten gedealt wird, braucht es dies natürlich nicht. Ihre Stärke für den utopischen Entwurf des Romans gewinnen die Figuren aus ihrer Andeutung.

Dasselbe gilt für die beiden Hauptfiguren, die sehr holzschnittartig angelegt sind. „Ihr Herz gefror zu Eis“ (S. 393), so kurz und knapp ist einmal von Patricias immer wieder unter der Oberfläche brodelnden Gefühlen für einen Mann zu lesen.

Die Märchenstrategie gilt auch für das ein oder andere Logikproblem, über das man bei der Lektüre stolpert. Als die Anhänger Pantopias ein Demonstrationscamp ins Leben rufen, bauen sie mit großem Aufwand einen Schutzwall auf. Offenbar mit Erfolg:

„In der Nacht hatten die Demonstrierenden die Autos […] auf die Zufahrtstraßen gelenkt und dort abgestellt. Vielen Fahrzeugen hatten sie außerdem die Reifen abmontiert, damit sie nicht abgeschleppt oder weggeschoben werden konnten. Als die Wasserwerfer anrückten, stießen sie auf eine Wand von unverrückbaren tonnenschweren Autokarosserien. Zuerst wurde versucht, die Wagen beiseitezuschieben, doch sie verkeilten sich dadurch nur noch mehr und wurden zu einem unüberwindlichen Hindernis[.] Am Nachmittag gab die Polizei auf“ (S. 418–419).

Doch nur wenig später heißt es von den Demonstrierenden selbst: „Obwohl das Camp über Nacht schon wieder über die Grenzen der letzten Autoblockade hinausgewachsen war, war es ein Leichtes gewesen, die Barrikaden am nächsten Morgen einfach um ein paar Meter zu verschieben. Dutzende junge Männer und Frauen trugen die Autowracks die Straßen entlang“ (S. 420).

Wie geht das? Was der Staatsmacht nicht gelang, schaffen die jungen Leute im Handumdrehen? Es sind Stellen wie diese, an der die wundersame Wunschwelt des Märchens deutlich wird.

Auch bei anderen Stellen könnte man sich fragen, ob diese als Plädoyer für Umweltschutz gut gewählt sind. Als Patricia lediglich für ein Interview von Griechenland nach Deutschland fliegt, denkt man unwillkürlich an die Möglichkeit von Videochats. Auf der anderen Seite findet sich in diesem Buch eine ikonische Szene, die alle ansprechen dürfte, die schon mal in einem (Großraum-)Büro saßen: Eines Abends nämlich, als Patricia länger im Büro war und alle anderen längst gegangen sind, schreitet sie an allen ausgeschalteten Rechnern vorbei und macht die Bildschirme aus. Es ist ein Faszinosum, dass viele Menschen, die den Müll trennen und die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, ihren Monitor am Arbeitsplatz nach Feierabend gerne anlassen. Hier gelingt Hannig ein schönes Bild.

Doch das sind nur einzelne Szenen und vereinzelte Assoziationen. Dem Roman „Pantopia“ von Theresa Hannig geht es tatsächlich um etwas Großes. Das sollte man nicht aus dem Blick verlieren. Die Autorin hat sich mit diesem Buch literarisch an die Umsetzung eines neuen Gesellschaftsvertrags gemacht, den alle Mitglieder der neuen Weltrepublik Pantopia laut ihrer Satzung eingehen. Dieser Entwurf ist bewundernswert. Der Philosoph John Rawls dürfte dafür Pate gestanden haben. „Wahrheit ist schön“, sagt Einbug im ersten Teil des Buches immer wieder. Der spannende geschriebene Pageturner „Pantopia“ überzeugt deswegen auch als sehr gut lesbare Ästhetisierung des vernunftbegabten Denkens.

Sommer mit Seele. Martin Mosebach: „Der Mond und das Mädchen“ (2007)

Darf man das? Heute noch so schreiben, wie es im 18. Jahrhundert schick gewesen wäre? Oder wie es einem Thomas Mann zur Ehre gereicht hätte? Wo liest man noch, dass jemandem bei Abschluss eines Mietvertrages „blümerant zumute“ (S. 29) war? Oder Sofa mit ph statt f?


Ein frisch verheiratetes Paar möchte nach Frankfurt ziehen. Während Ina mit ihrer Mutter, einer recht versnobten Dame namens Ida von Klein, die sich nur in besseren Kreisen wohl fühlt, in Italien weilt, begibt sich Hans allein auf die Ochsentour der Wohnungssuche. Es ist Hochsommer und Frankfurt leidet unter sengenden Temperaturen. Der Wohnungsmarkt ist schwierig.

Nach unzähligen Besichtigungen streckt Hans schließlich die Waffen und mietet als Notlösung eine heruntergekommene Dachwohnung im Frankfurter Bahnhofsviertel am Baseler Platz. Da gibt es eine ganz Menge schräger Gestalten. Ina soll es recht sein, sagt sie. Sie vertraue ihm vollkommen bei der Wahl der Wohnung.

Hans hingegen scheint sich recht schnell zu arrangieren. Nicht nur mit der Wohnung. Aus ganzer Seele verspürt er eine Neugier auf alles, was das Leben zu bieten hat. Alles hat Entdeckerwert. Da stören nicht mal Autoabgase: „Eine gleichsam wattige Substanzhaftigkeit gehört geradezu zur Stadtluft“, nimmt er wahr, als er die Straßen mit dem Fahrrad durchstreift (S. 9). Mit einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft im Hinterhof der neuen Wohnung, bedient vom Schnellimbiss eines Äthiopiers, und dem Ehepaar ein Stockwerk tiefer freundet er sich schnell an.

Vor allem Britta lässt ihn nicht los. Nun ja – wortwörtlich. Und zwar in jener Nacht, als Ina ihn aussperrt und Brittas freizügiger Mann, Dr. Elmar Wittekind, gleich daneben im selben Bett liegt. Nach dem begangenen Ehebruch weiß der auktoriale Erzähler zu berichten: „Hans fühlte den Wunsch, sich treiben zu lassen, womöglich gar von zuhause wegtreiben zu lassen“ (S. 159).

Anders als die neugierige Natur Hans ist Ina eher empfindlich, wird als zart beschrieben. Sie hat Kunstgeschichte studiert und kommt aus gutem Hause. Dem abnehmendem Mond gleich – Mosebach lässt seine Geschichte in der Zeit des Vollmondes bis zum Neumond spielen – tritt auch Ina eher in den Hintergrund der Geschichte. Doch gegen Ende meldet sie sich schlagkräftig zurück: nämlich mit einem überraschenden Schlag mit einer Flasche auf den Kopf ihres Mannes. Der Schlussstrich unter die gesamte Geschichte über den Einzug in eine Wohnung, unter der sie seelisch zu leiden begann. Kurz: Mit dem Mond nimmt auch ihr seelisches rapide Glück ab.

Bereits die erste Nacht in der Wohnung war ein völliges Desaster: Eine Taube hatte sich tagsüber eingenistet und sich dabei zu Tode geflattert. Daraufhin verbringen die beiden die Nacht im Hotel. Später braucht es dann nur noch ein Missgeschick von Hans – bei der Einladung zu einer Party verwechselt er die Tage und die beiden stehen festlich zurechtgemacht vor verschlossenen Türen – und der Haussegen hängt komplett schief.

Trotz ihres sozialen Rückzugs findet auch Ina Zutrauen in jemanden, und zwar in Urban Sieger, dem übergewichtigen Hausbesitzer. Sie schätzte seine Offenheit und „fühlte eine innere Saite schwingen, solange sie ihm zuhörte“ (S. 147).

Zur Komödie gerät dabei die Episode mit den vertauschten Eheringen: Beim Einzug des Paars ließ Urban Sieger seinen Ring in der Dachwohnung des Ehepaars, zu der einige Möbelstücke gehören, liegen. Schon vorher hatte Hans seinen Ehering bei Britta verloren und nimmt stattdessen den von Sieger zum Ersatz. Bevor Ina noch etwas merkt. Nun sucht Urban Sieger aber seinen Ring. In der Zwischenzeit wirft Britta Hans‘ Ring in den Briefkasten des Ehepaars. Ina findet ihn und glaubt, es sei Siegers Ring, und gibt ihn an den Hausbesitzer weiter. Die Ringe sind fortan vertauscht.

Ordnung und Unordnung des ehelichen Lebens werden hier wie in einem Kabinettstück durchgespielt und betten sich in die Gesamtkonstruktion, die mit Gegensätzen spielt, ein: die Antagonismen der Milieus von Bürgertum und sozialen Randgruppen, von Gegenwart und der Sprache einer vergangenen Epoche. Auch dass der Titel von Ina spricht, die Geschichte aber fast durchgehend aus der Perspektive Hans‘ geschildert wird, gehört hierher.

Am Ende ist es Ina, die die eheliche Ordnung wieder herstellt. In einem zeitlichen Sprung berichtet der Erzähler auf den letzten Seiten, die zwei hätten nun ein Haus in ruhiger Lage und zwei Kinder. „Es war eigentlich nicht so, daß der junge Mann an Kinder dachte. Er wollte mit Ina als Liebespaar leben“ (S. 11). So startete für Hans noch das Abenteuer Frankfurt. Doch der Ausbruchsversuch in ein Leben voller Möglichkeiten gab eben nur eine Geschichte für einen überheißen Sommer her. Am Ende lässt er sich wieder eingefangen, am Ende übernimmt seine Frau die Kontrolle.

So leicht dieses Sommerstück auch ist, mit dem Mosebach 2007 seine Reihe von Frankfurt-Romanen fortführte, so sehr scheint der Roman auf der philosophierenden Frage insistieren zu wollen: Was ist das eigentlich – wohnen? „Wer eine Wohnung sucht, hat es mit einem der seltenen Augenblicke zu tun, in denen der Mensch wirklich einmal glauben darf, über die Zukunft seines Lebens zu entscheiden, denn im Wohnen, so vieldeutig dies Wort eben ist, liegt doch das ganze Leben beschlossen“ (S. 5). So lautet der sperrige erste Satz des Romans.

Was ist das Eigene? Was ist das Fremde? Und wie kommt man klar in einem neuen Wohnviertel? Wie ein Seelenlicht scheint der abnehmende Mond die Bedürfnisse der heterogenen Figuren dieser Geschichte zu erhellen.

Oder müssen auch all diese Fragen ins Gegenteil verkehrt werden? Löst sich der ganze Metaphysikverdacht nicht in der ironischen Erzählhaltung auf, die – neben dem stilisierten Satzbau und den ausgedehnten Satzlängen – auf Distanz zu den Figuren geht?

Spannend sind solche Überlegungen zur Bauform eines Buches ja allemal. Doch der Weg, der im anstrengenden Roman „Der Mond und das Mädchen“ von Martin Mosebach zu diesen Fragen führt, ist recht beschwerlich geraten. Es fällt schwer, mit dieser Sprache warm zu werden. Es fällt schwer, darin eine Stilaussage zu sehen.

 

Böblingen und Bergamo, Basel und Berlin. Thommie Bayer: „Eine Kurze Geschichte vom Glück“ (2007)

Robert Allmann aus Freiburg, ehemaliger Musiker, freischaffender Texter und zwischenzeitlich Mitbegründer einer Künstleragentur, gewinnt im Lotto. Er ist einer von zwei Glückspilzen und erhält 6 Millionen Euro. Was soll jetzt noch folgen – außer dem vollendeten Glück natürlich? Nun ja, neben einer schicken Limousine gibt es ein paar Schicksalsschläge und jede Menge Selbstzweifel.

Bei der Benachrichtigung durch die Lotteriebehörde über den Gewinn, erhält Allmann den Rat, niemandem etwas davon erzählen. Daran will er sich auch halten. Bei seiner Frau möchte er aber eine Ausnahme machen. Oder nicht? Nein, doch, das will er. Ihr möchte er die frohe Kunde auf jeden Fall überbringen.

Und in diesem Hin und Her liegt in dieser Geschichte über das Glück auch schon der Hund begraben. Doch der Reihe nach.

Es ist ja schon mal nett anzumerken, dass bei bei dem Schweigepakt und dem Nichtzählen dennoch der Literatur das ganze Glück anvertraut wird – eine gute Nachricht. Sprache und Erzählhaltung des Romans nehmen einen auch sofort ein. Es gibt viele schöne Wörter, die man so noch nicht gehört zu haben glaubt.

Immer wieder ganze Sätze, die unglaublich leicht und poetisch wirken: „Ich besuchte das Baptisterium, es war beeindruckend hoch und von einer Zartheit, als wäre der Bau gehäkelt“ (S. 177). Immer wieder reichen einzelne Sätze aus, um Personen treffend zu charakterisieren oder eine Situation zu beschreiben. Die Formulierungen glänzen mit einer  wohltuenden Geschmeidigkeit.

Eine charmante Lässigkeit und gelassener Humor voller Selbstironie ziehen sich durch die Sätze. Das ist aber auch alles ein wenig solipsistisch. Darin erinnert Thommie Bayers „Die kurze Geschichte vom Glück“ an französischsprachige Autoren vom Schlage eines Philippe Djian oder noch mehr an Jean-Philippe Toussaint in dessen frühen Romanen.

Robert Allmann ist ebenfalls reichlich chauvinistisch. Mit den Gepflogenheiten in Sachen politischer Korrektheit hält er auch nicht gerade Schritt. Auch die Helden bei Toussaint schlitterten in Situationen, in denen sie auf sich selbst gestellt waren und die sie mit viel Witz oder Galgenhumor durchstehen mussten. Bei ihm verabschiedeten sich Ehefrauen recht schnell aus der Handlung. Das passiert auch Bayers Lottogewinner, als er ihr eigentlich mitteilen wollte, dass sie nun Millionärin ist.

Richtig schön soll es werden, wenn Allmann seiner Frau die Nachricht überbringt. Genau auf das Menü abgepasst will er ihr die Nachricht vom sorgenlosen Leben beim Abendessen servieren. Aber schon im ersten Akt geht alles schief. Noch bevor die Bombe platzt, gibt es dicke Luft zwischen den beiden und Regina, sein Frau, die er Wespe nennt, verlässt die Wohnung. Im Anschluss beginnt eine Geschichte, die zum Teil eine Roadstory ist und in der Allmann mit verschiedensten Überlegungen konfrontiert wird.

Diese Gedanken kreisen immer wieder um Ecki, einen ehemaligen Kompanion. Beide zusammen hatten eine Agentur ins Leben gerufen. Dabei wurde Allmann von Erik über den Tisch gezogen und Allmann verlor einiges an Geld. Kurioserweise waren es Eckis Zahlen, mit denen auch Robert Allmann Lotto spielte – deswegen weiß er auch sofort, wer der zweite Lottogewinner aus Baden-Württemberg ist.

Nachdem seine Frau das Weite gesucht hat, startet Allmann eine sanfte Konsumtour. Zu den amüsantesten Partien des Romans gehört die Passage, in der er über die Wahl der Automarke für sein neues Pkw nachdenkt. Dass der gebürtige Esslinger keinen Moment daran denkt, einen Mercedes zu wählen und sich für den ästhetischeren BMW entscheidet, regt mindestens zum Schmunzeln an.

Lokalpatriotismus hat er immerhin für Porsche übrig. „Es gibt auch Ästheten in Porsches, aber die prägen nicht das Bild“ (S. 21) – so haben die Luxussportwagen aus Zuffenhausen keine Chance. Dann vielleicht ein SUV? Das sei „neureich für Realschüler“ (S. 21) findet er, der ebenfalls kein Abitur hat. Seine Wahl fällt auf einen Cabrio von BMW. „Der Wagen fuhr sich phantastisch. Es war wie im Kino. Draußen sichtbar die echte Welt oder etwas, das ihr verblüffend ähnelte, und drinnen schwarzer, weicher Komfort“ (S. 48).

Der Bewusstseinsstrom an den aufwühlenden Tagen seit der Nachricht vom Lottogewinn wird strukturiert durch die Schilderung von Autofahrten. Da setzt man sich auch schon mal einfach so ins Auto. „Spazieren fahren. Zur Beruhigung“ (S. 57). Durch Südbaden steuert er seine „Maus“, wie er das Auto nennt. Bis nach Basel, durch das Elsass bis Colmar, zurück in Richtung Deutschland nach Karlsruhe und von da nach Freiburg oder nach Esslingen zu seinem Vater, vorbei an Böblingen oder über die Fildern.

Auch die Strecke Singen – Stuttgart steht auf dem Programm und wer diese schon einmal gefahren ist, weiß: Es gibt dort kein Tempolimit. So fließt die Geschichte dahin, flott und sanft, nur gelegentlich ausgebremst von Fahrern, die ein Auto, das 127 km/h fährt, mit 130 km/h überholen. Eine längere Erzählpartie führt ihn nach Oberitalien. Spätestens hier weiß man: Allmann fühlt sich richtig wohl in dieser Ecke. Hier ist er zuhause.

Zum Motiv des Autofahrens bzw. dem Gedankenfluss Allmann passt eine formale Eigenart des Buches: Nicht nur lässt Thommie Bayer seine Sätze extrem häufig mit einem „und“ beginnen. Dies passiert auch schon mal in zwei Sätzen hintereinander: „Und ich zündete mir ein Zigarette an. Und begriff mit Erstaunen, dass ich mich gleichzeitig in zwei völlig verschiedenen Zuständen befand“ (S. 144-145).

Nein, die Kapitel sind auch – statt konventionell durch Zahlen – durch das kaufmännische Und getrennt. Oder besser gesagt: verbunden. Es empfiehlt sich auf jeden Fall, diese Zeichen einmal mitzulesen. Das treibt den Bewusstseinsstrom ganz eigenartig voran. Im Erzähltext entsteht ein Sog, ein Glückssog quasi, den der Lottogewinner gerade zu erleben scheint.

Das führt aber nicht dazu, dass Allmann ein durchweg sympathischer Zeitgenosse ist. Er vergisst Dinge. Seine Fähigkeit, andere richtig einzuschätzen, ist nicht immer einwandfrei. Vor allem aber: Er ändert in Windeseile seine Meinung oder verschiebt Pläne in die Zukunft: „Ich hatte keine Ruhe für das Ganze, ich würde wieder herkommen, irgendwann auf meiner Reise durch die oberitalienischen Städte“ (S. 177). Als er beschließt Freiburg zu verlassen, stellt er am nächsten Tag doch wieder fest, dass Freiburg eigentlich ganz schön sei. „Wollte ich wirklich hier weg? Ich hatte das Münster erst einmal von innen gesehen, und auf den Turm war ich noch nie gestiegen“ (S. 184).

Impulshandlungen und eine schräge Logik – das ist die bedauerliche Konsequenz dieser selbstironischen Erzählanlage. Die Lässigkeit aus dem ersten Drittel verliert in dem Moment an Sympathie, in dem ein glaubhaftes Ende konstruiert werden soll. Die Geschmeidigkeit der Formulierungen ist im ersten Drittel ein Genuss. Im letzten Drittel gerät sie unter die Räder der ständigen Selbstrelativierungen.

Auch der dramaturgische Höhepunkt im mittleren Drittel – seine Frau brennt mit einem anderen durch und will die Scheidung, ohne vom Lottogewinn erfahren zu haben – überzeugt nicht wirklich. Es war an dieser Stelle bereits zu erwarten, dass sie nicht mehr in der Handlung auftaucht bzw. zu ihm zurückkehrt.

Schließlich sinken Allmanns Gedankengänge gar auf triviales Niveau: „Architektur … und Kunst sind offenbar etwas, das man erst später entdeckt, in der Kindheit geht es nur darum, sich stark zu fühlen“ (S. 198). Ebenso befremdlich steht man dem Erzähler gegenüber, als sein Vater stirbt. Dieser schlug ihn als Kind und entwickelte sich in den 1980ern zum Altnazi zurück. Doch Allmann fragt sich allen Ernstes am Tag der Beerdigung: „Musste ich mich schämen, dass ich nicht um meinen Vater trauerte?“ (S. 198). Bei einem Schläger wohl verzeihlich.

Der permanente Sinneswandel, die Unzuverlässigkeit der Entscheidungen führt natürlich das Ende des Romans ad absurdum. Den geplanten Umzug nach Berlin will man dem Buch als Conclusio dieser ganzen Rallye durch Glück nicht so recht abnehmen. Es klingt nur als das romantisch-kitschige Motiv vom Neuanfang an, das leider blutleer bleibt. Allmann wird sich in Berlin ja nicht ändern. Wovon soll es ein Neuanfang sein? So lieb und teuer, wie ihm das südliche Baden, das Elsass, der Radius rund um Freiburg und auch Italien sind, gibt es keinen Grund, an diesen Neuanfang zu glauben.

Eines fällt allerdings auf. Es scheint ihn ja zu geben, den Mythos Berlin unter Stuttgartern. Zwischen Esslingen und Ludwigsburg scheint es ausgemachte Sache zu sein, mindestens einmal in Berlin arbeiten und leben zu müssen. Manchen zog es dorthin, viele kehrten zurück. Ob Bayer diesen Mythos unter den Schwaben aufs Korn nimmt? Die  Suche nach dem Glück in der Hauptstadt? Dieser Gedanke wäre ein versöhnliches Ende für diesen Roman.

 

Offene Türen. Andreas Wollbold: „Felapton oder Das letzte Glück“ (2018)


In einem Kloster werden fünf Leichen gefunden. Auf ihren Gesichtern liegt der seltsame Ausdruck eines tiefen, seligen Glücks – das wirft Fragen auf und ruft eine ganze Reihe von Leuten mit unterschiedlichsten Interessen auf den Plan.

Bei den fünf Toten handelte es sich um einen Kreis rund um Robert Schönherr, Doktor der Philosophie und aufgrund seines Asperger Syndroms hochbegabt in den Fächern Logik und Mathematik. Am Münchener Institut für logische Grundlagenforschung war er mit dem Assistenten seines Doktorvaters, mit Frederic Brescher, bestens befreundet, ehe es zum Zeitpunkt ihrer Dissertationen ominöserweise zum Bruch kam.

Als Erster war Jens Deschwitz am Tatort in der Krypta des Klosters. Der Fotograf hat ein Faible für Porträts, er ist ein „Mystiker des Auges“ (S. 205) und begabt mit einem Blick für Gesichter. Als er sich daran macht, die Geschichte hinter dem Unglück zu recherchieren, lernt er die gescheiterte Medizinstudentin Julia Obersieder kennen. Als Praktikantin in der Gerichtsmedizin war sie bei der Untersuchung der Leichen ebenfalls am Tatort.

Beide finden heraus, dass Schönherr eine Widerlegung der Doktorarbeit von Brescher anfertigen wollte: Schönherr, dessen „Blick nichts Falsches übersehen konnte“ (S. 108) und der zu den „Höchstbegabten unter den Aspergerpatienten“ (S. 114) gehört, war diversen Fehlern in der Argumentation, war einer falschen Logik auf der Spur. „Sein Ordnungssinn warnte ihn schrill vor Breschers Logik der Macht: Da stimmte alles nicht. Ein Machwerk war es, dazu bestimmt, die Menschen zu verderben. Nur merkte es keiner, und alle jubelten ihm zu“ (S. 101).

Doch zunächst muss Schönherr fliehen, da ihn die Polizei als Verdächtigen im fünffachen Todesfall sucht. In einer einsamen Hütte in Italien findet er gegen Ende heraus (es ist eine von drei Szenen, die aus der Sicht Schönherrs erzählt wird), dass Breschers Doktorarbeit sogar ein Plagiat ist – die gedanklichen Fehler kommen noch hinzu. Verfasser war der (im Roman erfundene) schottische Aufklärungsphilosoph Edward Pimkie, der 1762 die Schrift Illogical logic or the temptations of Behemoth verfasste.

Immer wieder tauchen nun wie aus dem Nichts mysteriöse Gestalten auf, die den Verlauf der Geschichte rund um Robert Schönherr zu beeinflussen versuchen. Sie stammen von einer „Organisation“, die nicht näher bezeichnet wird und hinter der man die Pharmaindustrie vermuten muss. Sie glaubt an eine Glückssubstanz, Drogen, die die Opfer in jener Nacht zu sich genommen haben müssen – nur dies erkläre den seligen Ausdruck auf den Gesichtern. Jakob Leicht, ein Windhund vor dem Herrn und Chefredakteur der Wochenzeitung, die Deschwitz‘ Bilder von den Toten als Erstes veröffentlichte, lässt sich von dieser Organisation anheuern, um die Formel für die Glückssubstanz zu entschlüsseln. Der Chefredakteur verrennt sich dabei vollkommen. Es gab keine Glückssubstanz: Die Fünf sind gestorben, weil ein Ofenkamin verstopft war. Sie sind erstickt. Es war schlichtweg ein Unfall.

Auch Brescher steht wohl schon seit Längerem mit dieser Organisation in Kontakt – man baute offenbar auf seine Marketingqualitäten, Dinge mit philosophisch-logischer Kompetenz so verdrehen zu können, dass aus einer Lüge eine glaubhafte Geschichte wird. Eben diese Form des Schlusses wird in der Logik, das erklärt der Roman ausführlich, „Felapton“ genannt. Es deutet sich zudem an, dass Andreas Wollbold der Schulmedizin, die Krankheiten bekanntlich nur unterdrückt, eben diese Logik vorwirft und ihr als Lösung die ganzheitliche Homöopathie, frei von logischen Verdrehungen, Marketingtricks und Millionenbeträgen der Pharamindustrie, aufscheinen lässt. Hinzu kommen im Roman im Übrigen die modernen Zivilisationskrankheiten Asperger (Schönherr) und Demenz (Schönherrs Mutter).

Kurz nach seiner Promotion, als Schönherr Breschers falsches Spiel zu durchschauen beginnt, kehrt er sich dem Glauben zu. Er bittet die Kirche, ein Kloster nach mittelalterlichem Vorbild der Convertiti gründen zu dürfen, um im Sinne der spätmittelalterlichen devotio moderna abgekehrt von der Welt leben zu können. Mit der Figurenkonstellation Brescher – Schönherr splittet sich der Weg zwischen Kloster und Karriere: Während Brescher zum Star des Instituts aufsteigt und ihr Direktor wird, wird Schönherr, der talentierter war, auf einmal fromm und zieht sich zurück. In dieser Phase lernt er fünf Menschen kennen, die ebenso nicht für die Welt gemacht zu sein scheinen. Mit ihnen zusammen wollte er ein klösterliches Leben führen.

Schönherr ist ein Sokrates, er strebt nach Wahrheit. Aufgrund seiner Krankheit kann er gar nicht anders als immer die Wahrheit zu sehen und an ihr festzuhalten. Seine Reise zur Wahrheit führt den Roman schließlich zur spätmittelalterlichen Mystik – jenes sehr moderne Thema, das in der Gegenwartsliteratur immer wieder auftaucht (und in der Kirche zugunsten psycho-sozialer Tätigkeiten gerne vernachlässigt wird).

In dieser Konzeption dürfte auch der Grund liegen, warum dem Sehen im Roman „Felapton oder Das letzte Glück“ eine so große Rolle zukommt. Die Bilder der Toten und die Figur des Augenmenschen Deschwitz, der ewig lang für seine Bilder braucht, aber stets den richtigen Riecher beweist – das alles erinnert an Heinrich Seuses Wort, ‚durch die Bilder über die Bilder hinaus zu gelangen‘.

Weiter: Zu seinen eigenen Aufnahmen, über die Gesichter der Toten sinniert Deschwitz, dass die Fünf mit ihm zu sprechen begonnen hätten: Es „wollte jetzt ein innerer Mensch zum Vorschein kommen, während der äußere Mensch zu Ende gekommen ist.“ (S. 373). Der innere Mensch, der äußere Mensch – das erinnert schon stark an die Wortwahl der deutschen Mystiker. Neben Heinrich Seuse war das auch das Vokabular Meister Eckharts, seit Dekaden ein Fixstern der deutschen Literatur (s. Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, dessen Titel eine direkte Anspielung auf Eckharts Programm des nichtbewussten Erkennens, eines Denkens ohne Eigenschaften, d. h. außerhalb von Raum und Zeit, ist).

Daneben fällt noch Nikolaus von Kues als Referenz in Betracht. Der deutsche Philosoph des Spätmittelalters ging der Frage nach, wie sich (in direkter Gegenposition zu Eckhart) im Sichtbaren, also innerhalb der Kategorien von Raum und Zeit, das Unsichtbare zu erkennen geben könne. „Was man sieht, das sagt schon alles“, so beschreibt es denn auch ein Pastor namens Kerninger an einer Stelle (S. 270) und fasst damit das bildorientierte Programm, den Kern dieses Philosophischen Romans zusammen. In ähnlicher Weise begleitete die Cusanische Philosophie die lebhafte Bilderproduktion der Renaissance und der devotio moderna maßgeblich. Vor allem in den Niederlanden.

Genau dreimal wird die Geschichte des Romans aus der Perspektive Schönherrs erzählt. Es ist nicht nur der philosophisch-logische Dreischritt von These, Antithese und Synthese, der auf der Inhaltsebene des Romans rund um das Institut für logische Grundlagenforschung immer wieder durchexerziert wird und mit Robert Schönherr auch in der literarischen Form eine Entsprechung findet.

Es ist auch das Muster der Nachfolge Jesu, der in der mittelalterlichen Mystik eine hohe Bedeutung zukam. Am Ende geht Schönherr in ein Kartäuserkloster: „der vollkommene Schluss“, wie Deschwitz in Anspielung auf die Frage nach folgerichtigem Denken richtig kommentiert (S. 404): Schönherr entwickelt seinen Weg nach den Anfängen (1. Flucht) weiter (2. Hütte in Italien) und wird schließlich zum vollendeten Menschen (3. sinnreicher Sprung über eine begrenzende Mauer auf das jenseitige Grundstück eines Klosters).

Was es mit dem letzten Glück auf sich hat, bleibt grundsätzlich offen. Im Gespräch zwischen Deschwitz und Obersieder kommt die Frage auf, ob sich am Ende des Lebens eine Tür öffne, ob es ein Leben nach dem Tode gebe, oder ob diese Tür verschlossen sei. Das letzte Glück wäre, sagt der Fotograf, eine offene Tür, das ewige Leben. Dramaturgisch und auch leitmotivisch findet das Türsymbol seine Entsprechung auf den Bildern der Toten – bei der Rekonstrukion der Geschehnisse taucht immer wieder die Frage auf, ob die Tür zur Krypta offen oder geschlossen war.

Es sind die Bilder, die das Interesse aller an der Handlung beteiligten Personen wecken – sogar Nichtbeteiligte wie von der Organisation im Hintergrund. Doch die Bilder zu verstehen, das ist nur wenigen vergönnt. Schönherr gelingt am Ende der anspielungsreiche Sprung über die Bilder hinaus hin zu einer persönlichen Bedeutung. Deschwitz und Obersieder kämpfen für Schönherr und helfen ihm dabei. Die vermutete Pharmaindustrie hingegen sitzt mit ihrem Wunsch nach einer geldmachenden Glücksdroge genauso einer Ente auf wie der Chefredakteur Leicht oder Brescher, der Karrierist am Katheter.

Wäre „Felapton oder Das letzte Glück“ von Andreas Wollbold einfach nur ein Roman, ließe sich manches einwenden: Trotz des großen Figurenkarussells bleibt das Werk statisch, die Charaktere zu schematisch. Die Figurenrede wirkt in manchen Partien zu gewollt. Die Namen sind allzu sprechend. Manchen Behauptungen fehlt der Beleg. Figurenbeschreibungen sucht man oftmals vergebens. Die Art, in der Deschwitz und Obersieder im Laufe des Geschehens zum Paar werden, ist schlichtweg Heftromanen entlehnt. Dass aus Dialogen unversehens ellenlange Monologe werden (auch schon mal eine Philosophievorlesung oder eine Predigt), mag noch durchgehen – man nimmt sich eben Zeit für die Dinge. Betulich theologische Sätze, ein theologisches Raunen nervt dann schon eher: Sie hatte sich „neben jeden Einzelnen gekniet und … ja, für jeden etwas wie ein Gebet gesprochen. Irgendwelche Worte hatte sie dabei nicht gebraucht“ (S. 174). Es wird sogar als Kunststück in Kombinationsfragen gefeiert, in einer Klosterzelle das Versteck unter einer Matratze entlarvt zu haben. Doch wo sollte man sonst etwas in einer Klosterzelle verstecken?

Doch diese Dinge sind nicht das Entscheidende. Dass der Karl Alber Verlag mit einem Philosophischen Roman an das romantische Konzept anschließt und Philosophie mit Literatur innerhalb einer ganzen Buchreihe vereint, ist aller Ehren wert und kann gar nicht hoch genug eingeordnet werden.

Oder gibt es Wahrheit, Erkenntnis und Moral außerhalb von Geschichten? Andreas Wollbach hat darüber mit Unterhaltungswert berichtet.

Lockdown, metaphysisch. Reinhard Kaiser-Mühlecker: „Fremde Seele, dunkler Wald“ (2016)

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die beiden Brüder Alexander und Jakob sowie deren österreichische Familie mit rechts-konservativem Einschlag. In einigen Partien taucht auch ihre Schwester Luisa wieder in heimischen Gefilden auf – das dritte Kind im Bunde, dem die Abnabelung von der Familie mit einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in Schweden bei Ehemann und Kind ebenso wenig gelingt wie später Jakob, dem jüngeren der beiden Brüder, der am Ende des Romans wieder bei seinen Eltern einzieht.

Thema des Romans ist somit das Erwachsenwerden und die Schwierigkeiten, außerhalb der gesicherten Grenzen der Familie auf eigenen Beinen zu stehen. In diesem Fall eine Familie, die in eine enge, miefige Welt gezeichnet wird, die unter einen mentalem Lockdown zu leiden scheint.

Schon bei Charaktereinführung fällt auf: Alexander und Jakob folgen nicht im Ansatz einer traditionellen, vorgezeichneten Bahn mit der Abfolge von „verliebt – verlobt – verheiratet“, wie es ihnen im Dreigenerationenhaus, in dem sie aufwuchsen, vorgelebt wird. Alexander ist vielmehr ein Frauenheld und achtet streng darauf, niemals von einer seiner Affären auch nur andeutungsweise auf eine Bindung festgenagelt zu werden. Bei Jakob deutet sich mit der Figur des Markus‘ über weite Strecken der Handlung ein homosexuelles Motiv an, bis Markus sich schließlich erhängt. Zum Zeitpunkt seines Selbstmordes war Jakob mit Nina verheiratet, die ihm eigentlich vollkommen zuwider ist. Nur eines gemeinsamen Kindes wegen willigte er in die Heirat ein – bis sich herausstellte, dass das Kind gar nicht von ihm ist. Er verlässt sie.

Alexander findet am Ende seine große Liebe und erweist sich auf einmal dann doch als bindungsfähig. Für Jakob, der beständig Reißaus nehmen möchte, aber nicht vorwärtskommt und schließlich wieder bei seinen Eltern einzieht, deutet sich am Ende derselbe Weg wie bei Alexander an: Er möchte zum Mililtär. Ob das aber das Richtige für ihn, den „zarten Jungen“ (S. 301), sein wird, beantwortet der Roman nicht mehr.

Das traute Heim, der Wunsch nach einem Zuhause und einer Ankunft im Leben wird in diesem Brüderroman metaphysisch überhöht und bildet lange Zeit einen unerreichbaren Fluchtpunkt – zumindest aus der Perspektive der Brüder. „Als wäre es zu Hause“ (S. 265), geht es Alexander einmal durch den Kopf, als er während einer Reise beim Sightseeing in einer Kirche Platz nimmt. Alexander, der schon früh die Familie verließ, war einst Stiftszögling und hatte eine Priesterlaufbahn erwogen, ehe es ihn zum Militär zog bzw. zu Beginn des Romans zu einem Auslandseinsatz.

Nicht nur mit dem religiösen Konnex deutet sich immer wieder Metaphysisches an. Auch angedeutete Naturschilderungen, die die Landschaft in einen zeitlosen Raum rücken bzw. das Vergehen von Zeit kaum mehr wahrnehmen lassen (wann fiel bereits Schnee oder noch nicht oder wann war er schon längst wieder geschmolzen?), verwischen Wirklichkeit. Darauf zahlen auch immer wiederkehrende Formulierungen wie „keine neuen Geschichten mehr“ (S. 177) ein, die einen immergleichen Ablauf des Lebens evozieren. Einen schönen Auftakt dazu gibt ein Birkenblatt am Anfang des Romans, das sogar bis auf die Färbung genauso aussieht, wie ein zuvor herbeigewehtes Birkenblatt – und wohl auch für die selbe Situation der Brüder einsteht.

Die Geschichte in „Fremde Seele, dunkler Wald“ spielt zu der Zeit, als die Russen die Krim besetzen – und ebenso, wie in der Ukraine die Grenzen verwischen, verläuft sich scheinbar auch das Leben der Söhne im Ungefähren, im Heimatlosen, und sie haben Schwierigkeiten, ihrem Leben Kontur zu verleihen. Die Möglichkeit, wieder zuhause einzuziehen und sich dadurch auf allzuleichte Weise seiner eigenen Grenzen zu versichern, erweist sich vor allem im Falle Jakobs als Trugschluss.

Fast der gesamte Erzähltext ist als ineinander verschränkte Parallelhandlung der beiden Brüder Alexander und Jakob angelegt – mit recht kurzen, rasch wechselnden Kapiteln. Das sorgt für die starke Sogwirkung der Geschichte, ist aber auch durchschaubar. Ebenso wie die Hintergrundgeschichte um das Erpresserpärchen Elvira und Erwin Hager und einen mysteriösen Mordfall im Nachbardorf bildet dieses Erzählmuster Strategien aus der Spannungsliteratur nach, die mehr und mehr zum Fundus oder sogar zum guten Ton in der deutschen Literatur zu gehören scheinen.

Diesem wohl zeitgemäßen Ansatz steht im Fall von „Fremde Seele, dunkler Wald“ ein Tonfall gegenüber, der immer wieder an einen klassische Erzähler denken lässt – der metaphysische Raum der Naturzeichnung kommt somit nicht nicht von ungefähr und findet auch tatsächlich im Erzählgestus seinen Niederschlag.

Während die unzähligen Fragesätze in der Figurenrede dem Gefühl der völligen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Hauptpersonen Ausdruck verleihen und lediglich mit einer auktorialen Erzählerstimme spielen, geben Sätze wie „Die Wochen vergingen in der gewohnten Weise“ (S. 102), „Die Reise begann sich schnell als abwechslungsreich und sogar sehr unterhaltsam herauszustellen“ (S. 132) oder einfach: „Drei Tage vergingen so“ (S. 144) den changierende Charakter auf und imitieren unverblümt klassisches Erzählverhalten. Die gelegentlichen umständlichen Satzkonstruktionen werden dabei nur allzu gern gewürzt durch das auratische und ekphratische Partizip Präsenz: „Er bückte sich und schaute unter den Tisch, bevor er sich wieder aufrichtete und die Zeitung an die Theke zurückbrachte, sich verabschiedete und ging, ein Bein etwas höher als das andere hebend.“ (S. 12.)

Reinhard Kaiser-Mühlecker

Am Ende ist es jedoch ein trotz allem frischer Erzählton mit viel Sogwirkung, der eine schnelle Lektüre ermöglicht. Denn es ist gerade die moderne Kontingenz der Lebensentwürfe, von der der Roman erzählt, und eben die hohe Dichte an schnell aufeinanderfolgenden Szenen, von denen gelegentlich aber fraglich bleibt, ob sie in jedem Einzelfall für die Handlung nötig gewesen wären. Ebenso scheinen manche Episoden schief geraten und die Figuren bleiben allzu schemenhaft. Darunter leidet der Erzähltext etwas, der allerdings – wie die Widmung des Autors schon sagt – eine lupenreine Geschichte ist.

Dies, das Nacherzählen eines Plots, was man sich klassischerweise in einer Familie an langen Abenden vorstellen kann, steht für den Roman denn auch im Vordergrund: Er ist nicht Avantgarde, er thematisiert nicht Sprache, ist nicht artifiziell und findet nicht in Stilübungen seinen Schlussstein. Sehr stark sind dabei die Auslassungen, mit denen Reinhard Kaiser-Mühlecker im gesamten Roman versiert arbeitet und ein Stückchen gelungener Erzählkunst vorführt.

Abtauchen ins Ich. Burkhard Spinnen: „Mehrkampf“ (2007)

Auf den ehemaligen Zehnkämpfer Farwick – bekannt in ganz Deutschland – ist geschossen worden. Doch niemand scheint ein Motiv zu haben. Spuren ergeben sich in erst, als Kommissar Grambach bei einem Kriegsspiel im Internet rund um U-Boote Farwick unter den Mitspielern entdeckt. Ohne sich zu erkennen zu geben, beginnt der Kommissar im übertragenen Sinne ein Spiel mit Farwick. Es überrascht nicht, dass der Leser bei den Tauchgängen der U-Boote symbolisch ins Ich der Figuren eindringt und zum Zuschauer eines Mehrkampfes im Inneren wird. Und zwar von Menschen, die mit Mitte vierzig das Alter für eine erste Lebensbilanz erreicht haben. Doch was Grambach sich dann bei seinem Fall zurechtstrickt, erweist sich genauso als Irrweg wie sein gesamtes Leben.

Stilvolle Aufmachung für einen souveränen Text

Kommissar Grambach war schon in jungen Jahren so begnadet wie kein Zweiter. Aus der vorgezeichneten kometenhaften Laufbahn wird allerdings nicht viel: Er wird Polizist – dabei hätte es problemlos zum Richter gereicht. „Jurist zu sein war wie jeder andere Beruf das Ende der Offenheit. Und nur auf dieses Offene war Grambach fixiert.“ Ein Lebensverweigerer? Nachdem er als Student das erste Mal mit einer Frau geschlafen hatte, fühlt er am nächsten Tag das, wonach er sich sein Leben lang sehnt: „In der Nacht schliefen sie miteinander. Am nächsten Morgen saßen sie lange auf Petras Bett. Für vielleicht eine Stunde fühlte sich Grambach damals, als müsste er nie wieder an etwas Bestimmtes denken.“ Offenheit und Unbestimmtes sind der Stoff, aus dem Grambach gemacht ist.

Das ist übrigens auch sein Antrieb bei seinen eigenen sportlichen Aktivitäten. Nur heißt das auch, dass er immer wieder Möglichkeiten an sich vorbeigehen lässt – und schließlich sein ganzes Leben. Entscheidungen, die klipp und klar sind, sind seine Sache nicht. Das wird dem Hochbegabten leider zum Verhängnis. In einer – arg holzschnittartigen – Szene gegen Ende des Buches kehrt ihm eine Frau den Rücken, die er gerade erst kennenlernte. Sie stellt ihn vor eine Wahl, bei der er sich nur für die naheliegende Variante hätte entscheiden müssen. Aber er sagt kein Wort und lässt sie gehen. Hätte er die Begabung, sich auch mal zu entscheiden und auf etwas festzulegen, das wird an dieser Stelle klar, wäre sein Leben viel glücklicher verlaufen.

Absprung nach draußen

Zum Filter der Geschichte wird die Sprache. Spinnen hält seine Prosa der klaren, kurzen Sätze konsequent durch. Das zu lesen ist stark. Vor allem kommt man allein dadurch gut durch die fast 400 Seiten. (Kritiker fanden das lang.) Gewöhnungsbedürftig bis zum Schluss bleibt allerdings der gelegentlich holprige Satzbau – genauso, wie auch die beiden Hauptpersonen bis zuletzt keine Sympathien gewinnen. Die Sprache entspricht den Charakteren: Der maskuline Sexprotz Farwick („ficken“ steckt ja fast schon im Namen) mag noch belustigen. Aber die Destruktivität, der leichte Wahn, die Extratouren von Grambach – diesem Mann voller Gram -, nein, hier entstehen keine Sympathien. Der Leser nimmt daran teil, wie Grambach einer falschen Spur folgt. Aber Mitleid entsteht nicht.

Und was das Abtauchen betrifft bzw. das Kriegsspiel: Hier konstruiert Spinnen eine schöne Entwicklung. Das höchste Level, erst von Grambach und Farwick symbiotisch gelöst, besteht darin, dass eben keine Schlacht mehr geführt werden muss. Vollkommen ruhig, bei ausgestellten Turbinen, allein von Ebbe und Flut bewegt, fährt das U-Boot durch die Themse bis in die City von London, wo die ganze Besatzung einfach aussteigt und sich unters Volk mischt. Hier taucht sie wieder auf, die (mittelalterliche, europäische) Mystik mit ihrem Streben nach Ruhe, ihrer Bilderlosigkeit und dem Ende aller Kämpfe. Themen, die ja in der Gegenwartsliteratur weiterleben. Immer wieder schön zu sehen.

Unterhaltung und Lesespaß vom Feinsten

Wie es sich für einen Krimi gehört, besteht das Buch aus kurzen Szenen. Und es gibt zwei Erzählstränge, die immer wieder zusammenlaufen. Gegen Ende auch sehr dramatisch. Das Buch bedient sich übrigens nicht nur des Krimi-Genres, auch das Liebesdrama steht Pate an der Stelle, als Missverständnisse die gesamte Handlung aus der Bahn zu werfen scheinen. Spinnen setzt das alles ziemlich versiert ein. Im Gegensatz zu den kritischen Einwände einiger Literaturjournalisten ist es für mich ein gutes Buch. Lesevergnügen? Ja.